Insolvente Altenheime: Neuer Höhepunkt des Pflege-Notstandes

Meinung Fehlt das Personal, müssen Heimplätze abgebaut werden. Halb volle Heime aber machen Verluste. Und jetzt? Ulrike Baureithel blickt hinter die Insolvenzwelle bei Pflegeheimen
Ausgabe 19/2023
Es droht großes Unheil: der Fachkräftemangel bedroht Pflegeeinrichtungen stark
Es droht großes Unheil: der Fachkräftemangel bedroht Pflegeeinrichtungen stark

Foto: Imago/photothek

Es sei wie ein Sechser im Lotto, freute sich im Winter eine Freundin, die innerhalb weniger Tage einen Heimplatz für ihre plötzlich pflegebedürftige Mutter ergattert hatte. Nicht zig Kilometer von ihrem Wohnort entfernt, sondern nebenan, gut geführt und in vertrauter Umgebung. Das hat Seltenheitswert. Denn wer derzeit einen pflegebedürftigen Angehörigen unterbringen muss, wird mit der stereotypen Antwort konfrontiert, dass das ausgebuchte Heim keine Wartelisten mehr führe, sondern Plätze nur noch ad hoc belege – wenn überhaupt. Seit nach dem Ende der Pandemie die staatlichen Rettungsschirme wieder zugeklappt wurden, hat der Notstand in der Altenpflege einen neuen Höhepunkt erreicht.

Immer mehr Heime melden Insolvenz an oder verringern ihre Kapazitäten. Das gilt insbesondere für kleinere Häuser, aber in die Schlagzeilen geraten nun auch große Betreiber, die mit dem Geschäftsmodell „Altenpflege“ auf den Markt gedrängt und satte Rendite gemacht hatten. Selbst Wohlfahrtsverbände wie die Caritas schlagen Alarm. 142 Heimschließungen, 431 aufgegebene Pflege- und 24 eingestellte Tagesdienste registrierte das Online-Portal pflegemarkt.com 2022, 6.477 vollzeitstationäre Pflegeplätze gingen verloren. Auffällig ist, dass Neugründungen vor allem in den Bereich der Tagespflege fallen.

Das naheliegende Erklärungsmuster – der Mangel an Pflegekräften – beschreibt die Situation nur unzureichend. Tatsächlich sind Betreiber, die kein Personal mehr finden, gezwungen, Plätze abzubauen, das wird sich noch verschärfen, wenn von Juli an die neuen Personalschlüssel gelten. Deshalb auch keine Wartelisten. Gleichzeitig wirkt sich die Tarifbindung aus, denn seit September vergangenen Jahres müssen die Träger ihren Angestellten, wenn sie über die Pflegekasse abrechnen wollen, Tariflöhne bezahlen. Zusammen mit gestiegenen Energiekosten und Inflation treibt das die Kosten in die Höhe. Nicht voll belegte Heime geraten in Zugzwang, und die Eigenanteile steigen.

Diese können von den Heimbewohner:innen immer weniger gestemmt werden, 2.500 Euro und mehr sind die Regel, werden nach neuem Recht aber je nach Verweildauer abgeschmolzen. Die dann zuständigen Sozialämter springen zu spät ein, es kommt zu verbissenen Verhandlungen zwischen Träger, Kasse und Amt. Die Rücklagen kleiner Betreiber sind irgendwann aufgebracht, die Gewinne der großen Player längst von den Aktionären aufgefressen. Das System, einmal in den globalkapitalistischen Kreislauf eingespeist, funktioniert nicht mehr.

Und weil es im Unterschied zur medizinischen Versorgung im Pflegebereich keinen Sicherungsauftrag gibt, richtet es der Markt. Oder auch nicht. Heimbetreiber überlegen nun gut, wen sie aufnehmen: Gut betuchte Senior:innen bergen weniger Risiko als staatlich alimentierte. Dabei steigen die Beiträge zur Pflegekasse von Juli an auf 3,4, für Kinderlose auf vier Prozent. Das stopft gerade die schlimmsten Löcher, hat aber wenig Einfluss auf das Heimangebot. Selbst steigende Pflegeleistungszuschläge werden daran wenig ändern. Wer seine Angehörigen nicht unterbringt, wird also gezwungen sein, die Pflege selbst zu übernehmen. Kein Ratespiel, wen das in welchem Fall vor allem trifft: die Töchter oder die Frauen aus Südosteuropa. Das Allermindeste wäre also, ähnlich wie Krankenhausbetten auch Pflegeplätze in planerische Obhut zu überführen. Und warum kein Sondervermögen „Daseinsvorsorge“? Das wäre nachhaltig, sozialverträglich und friedensstiftend.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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