Irreführung der Patienten

Ärztetag Absichtliche Provokation: Ärztepräsident Hoppe will ein Rationierungssystem wie in Skandinavien. Unterdessen lassen sich Patienten von dort in Deutschland behandeln

Pillen gegen Magenschmerzen? Krankengymnastik nach einem Sportunfall? Blutdrucksenker bei Hypertonie? Psychotherapie bei Depressionen? Und alle paar Tage ein Arztbesuch? Nein, liebe Patienten und Patientinnen, das war gestern, alles Luxus! Wenn Sie das nächste Mal eine Arztpraxis ansteuern, sollten Sie schon eine manifest ausgebildete Krankheit mitbringen: Einen ordentlich gefräßigen Krebs etwa, eine galoppierende Diabetes oder schlappe Nieren mit Dialysebedarf.

Reichlich Kanonendonner

Dann nämlich gehören Sie in Jörg-Dietrich Hoppes höchste Dringlichkeitskategorie und haben Chancen, von den 167 Milliarden Euro, die jährlich in den Gesundheitsfonds fließen, zu profitieren. Wenn Sie aber glauben, ein bisschen nachhelfen zu können mit fetten Pommes, um dadurch schneller zu den Privilegierten zu gehören, liegen Sie falsch: Wer sich nicht ordentlich ernährt und sich allen Ratschlägen der Präventionsapostel entzogen hat, muss die Kosten für seine Leiden ebenfalls allein schultern, denn die gelten nun als selbst verschuldet und haben keinen Anspruch mehr auf Solidarität.

Mit solchen Vorschlägen zur Beschränkung medizinischer Leistungen reist der Chef der deutschen Ärzte nun schon wochenlang durch die Plapperrunden der Republik, um – wie er sagt – eine „notwendige Priorisierungsdebatte“ in Gang zu setzen. Mit Sinn für Dramaturgie und reichlich Kanonendonner hob er diese nun auch auf die Agenda des derzeit tagenden Deutschen Ärztetages und erreichte damit, was er wollte: „Viel öffentliche Empörung und politische Reflexe“.

Ein „Tabubruch“ ist Hoppes Vorstoß allerdings nicht, denn von Rationierung von Gesundheitsleistungen ist in den einschlägigen Zirkeln, Konferenzen und Zusammenkünften schon seit längerem die Rede. Bereits 2006 hatte die damals noch tätige Enquete-Kommission des Bundestags Experten aus dem Ausland eingeladen, um sich darüber berichten zu lassen, wie in Schweden, Großbritannien oder Israel medizinische Leistungen beschränkt worden waren, ohne allzu großen Widerstand in der Bevölkerung herauszufordern.

In Schweden und Großbritannien, wissen wir inzwischen, funktioniert die Prioritätenliste nicht so reibungslos, wie uns der Ärztepräsident glauben machen will. Sonst wäre es nicht zu erklären, warum schwedische Patientinnen in deutschen Brustkrebszentren auflaufen, weil sie hier schneller behandelt werden als in ihrer Heimat. Gleiches gilt für Operationen, die in Großbritannien wegen fehlender Bettenkapazitäten oder in Norwegen wegen Mangel an Chirurgen nicht durchgeführt werden können. Inzwischen gibt es einen regen Patiententourismus.


Dass Hoppe, vom medizinischen Standpunkt aus gesehen, Unsinn redet, weiß der Ärztechef selbst: Denn aufgeschobene Behandlungen ziehen unter Umständen schwerere Krankheiten – und damit auch höhere Kosten – nach sich. Er weiß aber auch, dass der Begriff „Rationierung“, wenn es um Gesundheit geht, so provokativ ist, dass – zumal vor einer Bundestagswahl – das Gros der Politiker herbeieilen und mehr Geld für’s System versprechen wird. Als erster war es Ministerpräsident Kurt Beck (SPD), der – quasi stellvertretend für die durch Abwesenheit glänzende Gesundheitsministerin – dafür plädierte, mehr Steuermittel in den Gesundheitsfonds zu pumpen. Weitere werden folgen, denn nichts können Politiker, soweit sie das Label „sozial“ auf dem Jackett tragen, weniger brauchen als die Furcht ihrer Wähler, ihnen würde im Krankheitsfall nicht mehr geholfen werden.

Dass sich das deutsche Gesundheitssystem immer noch viele Fehlsteuerungen leistet und an manchen Stellen unsinnige und kostspielige Behandlungen, während andere Patientengruppen unterversorgt bleiben, ist ein Missstand, der an die Adresse der Politik und der Selbstverwaltung, nicht an die der Patienten geht. Dagegen helfen weder Geld noch Rationierungsdebatten. Rationierung im Gesundheitswesen wird darauf hinauslaufen, dass diejenigen, die ohnehin fit sind, auch auf diesem Feld ihre Rechte durchsetzen können. Ein „aufgeklärter Patient“ wird seinem Arzt gegenüber sitzen und ihm erklären, dass seine Krankheit üble Folgen haben wird und Behandlung einfordern – oder ihn wegen unterlassener Hilfeleistung verklagen. Die anderen, denen es dafür an Wissen, Verbindungen und Kapital fehlt, bleiben auf der Strecke.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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