Mit der aufkeimenden Wärme purzeln die Infektionszahlen, forciert durch steigende Impfaktivität und weitgehende Disziplin der Bevölkerung. Der Gesundheitsminister könnte also zufrieden sein als Streckenwart, der mit der Lampe am Ende des Tunnels winkt. Doch das Gegenteil ist der Fall, selten sah sich Jens Spahn (CDU) derart vielen Versagensvorwürfen ausgesetzt, angefangen bei den Abrechnungsbetrügern bei Massentests über die ewigen Querelen länderweit gerechter Impfstoffverteilung bis hin zu Spahns voreiliger Ankündigung, Kinder zwischen zwölf und 15 Jahren flächendeckend impfen lassen und dafür 6,4 Millionen Impfdosen reservieren zu wollen. Er wurde unterstützt von Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU), die eine generelle
Jens Debakel Spahn
Corona Der Gesundheitsminister irrlichtert weiter durch die Pandemie – etwa beim Thema Kinderimpfung
le Öffnung der Schulen nach den Sommerferien indirekt von der Impfung der Schülerschaft abhängig machte.Auf dem Impfgipfel mit den Ländern musste Spahn zurückrudern, nachdem klar geworden war, dass die für die Kinder und Jugendlichen nötige Impfstoffmenge aus dem allgemeinen Kontingent hätte abgezweigt werden müssen. Dennoch darf diese Altersgruppe nach der europäischen Zulassung von Biontech ab dem 7. Juni prinzipiell auch in Deutschland geimpft werden. Zu diesem Zeitpunkt endet die Priorisierung nach Alter, Risiko- und Berufsgruppen, und die Ärzteschaft entscheidet über den Vorrang. Man mag nicht in der Haut der niedergelassenen Ärzt:innen und ihres Personals stecken, die den nun noch dramatischeren Ansturm auf die Praxen zu bewältigen haben.Doch die Impfung von Kindern und Jugendlichen erregt die Gemüter. Denn noch hat sich die Ständige Impfkommission (StiKo) in Deutschland zu dieser Frage nicht abschließend positioniert. Es gilt aber als relativ sicher, dass sie keine allgemeine Impfempfehlung für diese Alterskohorte geben wird, sondern höchstens empfiehlt, Kinder mit Vorerkrankungen zu impfen. Es müsse zunächst genau geklärt werden, wie dringend die Kinder die Impfung tatsächlich für ihren eigenen Gesundheitsschutz brauchen, sagte der StiKo-Vorsitzende Thomas Mertens in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Anders als Ältere sind Kinder weniger gefährdet, schwer an Corona zu erkranken, die Impfung würde ihnen also weniger nützen als Erwachsenen.Kinder sind eben keine „kleinen Erwachsenen“. Bei ihnen als besonders schützenswerter, nicht einwilligungsfähiger Gruppe sind bei der Verabreichung von Medikamenten – also auch Impfungen – individueller Nutzen und Risiken genau abzuwägen. Das gilt übrigens auch für die Arzneimittelforschung, der strenge ethische Regeln auferlegt sind. Der Schweregrad der Erkrankung oder der potenzielle Nutzen für andere Kinder ist kein hinreichendes Kriterium dafür, sie in Studien einzubeziehen. Genau dies wäre der Fall, wenn Kinder vor allem geimpft würden, um zur allgemeinen Herdenimmunität beizutragen.Illusion HerdenimmunitätHerdenimmunität bei einem so hochansteckenden und extrem variablen Virus wie SARS-CoV-2, so der Virologe Alexander Kekulé in einem ausführlichen Gastbeitrag in der Welt, sei aber ohnehin illusorisch. Dagegen moniert der Wissenschaftler – wie viele seiner Kolleg:innen – die dürftige Studienlage in den USA, die von der europäischen Arzneimittelbehörde als Grundlage für die Zulassung herangezogen wurde und sich lediglich auf eine Untersuchung mit 2.260 Proband:innen stützt. Das lasse keine Aussagen über seltene oder spät auftretende Nebenwirkungen zu, zumal über das Immunsystem von jungen Menschen viel weniger bekannt ist. Gerade bei einem neuen Verfahren wie dem Biontech-Impfstoff sei Vorsicht geboten. Kekulé erinnert an Pandemrix, den Impfstoff gegen die sogenannte Schweinegrippe. In Schweden wurden Jahre nach seiner Verabreichung an Jugendlichen schwerwiegende Nebenwirkungen wie Narkolepsie, eine schwere Schlafstörung, festgestellt. Auch Ärzte-Präsident Klaus Reinhardt und der Vertreter der Hausärzte, Ulrich Weigeldt, reagierten sehr verhalten auf die Idee einer massenhaften Corona-Impfung von Kindern und Jugendlichen.Der Streit würde ohne den weiterhin bestehenden eklatanten Mangel an Impfstoff womöglich weniger scharf verlaufen. Vor einer Konkurrenz zwischen den Generationen warnte die neue Familienministerin Christine Lambrecht (SPD). Dass Jens Spahn die Empfehlung der StiKo in den Wind schlägt, feuert den Unmut der Expert:innen an. Aber insbesondere erinnert das Szenario an den vergangenen Sommer, als die Corona-Krise überwunden geglaubt wurde und keine Vorkehrungen für weitere Wellen – insbesondere solche, die den Präsenzunterricht an den Schulen gesichert hätten – getroffen wurden. Statt aus diesem Desaster Lehren zu ziehen, steuert das gesamte politische Personal, aufgepumpt mit Optimismus, auf einen Bundestagswahlkampf zu, in dem es sich brüsten wird, das Virus erfolgreich bekämpft zu haben – in der frohen Erwartung, dass uns eine vierte Welle im September noch nicht überrollt haben wird.Jens Spahn ließ das ganze Debakel um Abrechnungsbetrug und Impfstreit vergangene Woche erst mal unberührt, er ließ sich ja gerade in Afrika, zusammen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, als Retter feiern. Eine mit 50 Millionen Euro ausgestattete deutsch-französische Förderinitiative soll zum Aufbau der Impfstoffproduktion in Südafrika beitragen, die EU will sich mit einer Milliarde auf dem Kontinent engagieren. Ein Notpflaster aus der Erkenntnis heraus, dass die Pandemie weltweit bekämpft werden muss. Von einer Aussetzung der Patentrechte will der Gesundheitsminister im Gegensatz zu Macron allerdings immer noch nichts wissen.Wieder zu Hause, haben Spahn allerdings die Aufräumarbeiten eingeholt. Die Ärzteschaft beklagt sich, weil im Juni kaum Impfstoff für Erstimpfungen zur Verfügung steht, die ohnehin überlasteten Gesundheitsämter werden wenig erfreut sein, dass sie nicht nur Infizierte, sondern auch noch die schwarzen Schafe unter den Teststellen verfolgen sollen. Und in Großbritannien droht die nächste Infektionswelle mit der indischen Virusvariante, die auch Richtung Kontinent schwappen könnte – der freundlich gestimmte Corona-Himmel könnte sich also bald wieder verdüstern.