Die Politik ist am Zug

Richterspruch In ihrem Urteil zur Sterbehilfe stärken die Richter am Bundesverfassungsgericht das Persönlichkeitsrecht, mahnen aber auch sozialpolitische Maßnahmen an
Auch die allgemeine Situation in Gesundheit und Pflege darf bei der Frage der Sterbehilfe nicht ausgeklammert werden
Auch die allgemeine Situation in Gesundheit und Pflege darf bei der Frage der Sterbehilfe nicht ausgeklammert werden

Foto: imago images/Westend61

Unerwartet ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur „geschäftsmäßigen Sterbehilfe“ nicht. Schon in der mündlichen Verhandlung deutete sich die Tendenz der höchsten Richter an, das Selbstbestimmungsrecht von Patientinnen und Patienten höher zu werten als die – in der Begründung durchaus eingeräumte – Schutzpflicht des Staats. Die Entscheidung ist eindeutig und lässt keine Einschränkungen zu: Der §217 StGB ist nicht vereinbar mit dem Grundgesetz, weil er gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht verstößt, von dieser Welt zu gehen, wenn notwendig auch unter Beihilfe Dritter. „Das Recht“, heißt es in der Begründung, „schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen, und soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.“ Man darf sich augenreibend fragen, wie weit die Angebote des Staates dabei gehen sollen.

Die klagenden Sterbehilfeorganisationen jedenfalls werden jubeln. Roger Kusch, der den Deutschen Verein Sterbehilfe gegründet hatte und nach der Gesetzesänderung von 2015 wieder auflösen musste, wird schon in den Startlöchern stehen, um seine lukrative Unternehmung (Mitgliedsbeiträge bis zu 7.000 Euro) wieder zu mobilisieren. Auch sterbenskranke Patienten, die einen Antrag beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gestellt haben, um an ein todbringendes Medikament zu kommen, werden nun hoffen. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte das Institut vor einem Jahr per Direktivrecht angewiesen, die Anträge erst einmal nicht positiv zu entscheiden. Ein durchaus fragwürdiges Verfahren, das nun sicher nicht mehr aufrechtzuerhalten sein wird.

Mit der „historisch“ genannten Entscheidung des BVerfG haben die Sterbehilfebefürworter eine entscheidende Etappe im Kampf um die „sozialverträgliche Selbstabschaffung“ genommen. Es ist aber auffällig, dass sich dort immer schon Protagonisten engagiert haben aus einem sozialen Feld, das sich durch ökonomische Unabhängigkeit und hohes kulturelles Kapital auszeichnet, Intellektuelle wie der Tübinger Theologe Hans Küng etwa oder der Literaturwissenschaftler Walter Jens, der, als es soweit war, gar nicht mehr sterben wollte. Sie alle waren und sind von der Angst geplagt, das, was sie als höchstes Privileg empfinden, ihre persönliche und intellektuelle Autonomie, zu verlieren und abhängig zu werden. Diese vorauseilend empfundene narzisstische Kränkung treibt nicht alle, aber viele Nachfrager von Sterbehilfe an.

Missbräuchlicher Suizidhilfe einen Riegel vorschieben

Man sollte sich das Urteil aber doch etwas genauer anschauen. In der für die Presse aufbereiteten Entscheidung gibt es einige durchaus bedenkenswerte Aspekte. Zum einen hebt das BVerfG hervor, dass die in §217 StGB zum Ausdruck kommende Schutzverpflichtung des Gesetzgebers – auch wenn die konkrete Ausgestaltung dem grundrechtlich verankerten Persönlichkeitsrecht widerspricht – seine Berechtigung hat. Richtig sei das Anliegen, so die Richter, dass sich der assistierte Suizid „nicht als normale Form der Lebensbeendigung“ durchsetzt und Menschen sich etwa aus Nützlichkeitserwägungen das Leben nehmen. Der Gesetzgeber ist auch aufgefordert, der missbräuchlichen (gewerblichen) Suizidhilfe einen Riegel vorzuschieben. Bei der Einführung des neuen Strafparagraphen sei richtigerweise erwogen worden, dass „von einem unregulierten Angebot geschäftsmäßiger Suidizhilfe“ auch „Gefahren für die Selbstbestimmung ausgehen“ könnten. „Häufiges Motiv“, schreiben die Richter, sei erwiesenermaßen die Angst, Angehörigen oder Dritten „zur Last zur fallen.“

In gewisser Hinsicht haben die Richter und Richterinnen den Ball also an Regierung und Parlament zurückgespielt, die aufgefordert werden, durch sozialpolitische Rahmenbedingungen den Wunsch alter und kranker Menschen nach lebensbeendenden Maßnahmen überflüssig zu machen. Dass das angesichts der allgemeinen Situation in Gesundheit und Pflege ein bisschen blauäugig ist, steht dahin; Richter sind privatversicherte Beamte und selten in den Gefilden gesetzlich Versicherter unterwegs.

Interessant wird sein, wie sich die Ärzteverbände und Landesärztekammern, die mehrheitlich gegen den assistierten Suizid votiert haben, auf das Urteil reagieren. Denn auch das stellen die Richter fest: „Aus dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben leitet sich kein Anspruch gegenüber Dritten auf Suizidhilfe ab.“

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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