Kalkulierter Kraschill

Kommentar Wer erbt den rechten Rand?

So viel Einigkeit war schon lange nicht mehr. Unisono treiben ihn Presseleute durchs Mediendorf und geben ihm nicht nur Oppositionspolitiker die Peitsche. Die Einheit geht so weit, dass - im Zuge künftiger Rationalisierungen? - am vergangenen Samstag zwei große unabhängige Tageszeitungen einen fast wortgleichen Kommentar abdruckten, der in einem einzigen Satz zusammenzufassen ist: Es reicht, Schill muss raus. Das meint sogar die Hamburger Springer-Presse, die den Hamburger Innensenator einst als Ausmister in den hanseatischen "Augiasstall" hievte.

Diesmal hat der "Richter Gnadenlos" den Bogen überspannt, so der allgemeine Tenor. Was die skandalöse Hamburger Politik, die die Schill-Partei zusammen mit der CDU unter Ole van Beust und der FDP verantwortet, nicht zu Wege gebracht hat, dafür reichte ein einziger symbolischer Auftritt im Bundestag, den Schill - ohne sich an das Reglement zu halten - zum Anlass nahm, gegen AusländerInnen zu hetzen und die Regierung zu beschimpfen. Peinlich war allerdings nicht nur Schills Rundumschlag anlässlich der Aussprache zur nationalen Hochwasserkatastrophe, sondern auch die Tatsache, dass ihm das Hohe Haus die Tiraden mit Applaus dankte - aus den CDU/CSU-Bänken.

Das macht sich in Wahlkampfzeiten nicht gut, deshalb muss ihm der Saft - nicht nur der elektronische - abgezapft werden. Dabei ist der kalkulierte "Kraschill" offensichtlich: Schill ersetzt den Wahlkampf auf der Straße durch parlamentarischen Krawall und sichert sich auf diese Weise kostenlose mediale Aufmerksamkeit; die Union dagegen hofft, bei Hamburgs Schill-Wählern abzusahnen, wenn dieser sich nur ausreichend entblößt. Volker Rühe, CDU-Kandidat in Hamburg-Harburg, hat instinktiv seine Chance erkannt und das Schill-Euter angezapft: Als "einen beschämenden Vorgang" kritisiert er Schills Entgleisung. Der FDP dagegen muss die Hamburger Liaision mittlerweile ungemütlich werden, jedenfalls wenn sie doch mit einer sozialliberalen Koalition im Bund liebäugelt.

Dumm nur, dass Ole van Beust an seinem Krawallsenator festhält. Aber auch dies könnte Kalkül sein, weil die sonst drohende Große Koalition in Hamburg einen unliebsamen Vorschein auf verdrängte Bundesoptionen werfen könnte. Vielleicht werden die Stammtisch-Parolen Schills bei Hamburgs bürgerlichen Wählern ja tatsächlich als degoutant empfunden; doch es dürfte eine Klientel in diesem Land geben, bei der die Rede von den "tüchtigen Deutschen" und den "alimentierten Ausländern" auf gut vorbereiteten Boden fällt.

Gut vorbereitet auch deshalb, weil zumindest die großen Parteien dafür gesorgt haben, dass ein Wahlkampf selten so entleert daher kam, dass nur noch ein Hochwasser die Stimmungen fluten kann. Der große Showdown setzt nurmehr auf die Kopf-Show; und Schills Visage ist da auch nicht viel schlimmer als andere. Warum also sollte man der Union die Wähler zutreiben, die Schill sich tatsächlich red-lich verdient hat? Mit Schill bleibt der rechte Rand wenigstens kalkulierbar.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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