Dieses Buch ist wie seine Schöpferin: Ausgreifend und wild, apodiktisch und zärtlich, aufregend und enervierend. Es ist wie alle Auftritte, die Gerburg Treusch-Dieter hingelegt hat: Wenn sie, chronisch zu spät, auf eine Redaktionssitzung stürmte und die lächerliche Entschuldigung schon mit einer ausgreifenden Analyse des Weltgeschehens verband; wenn sie auf einem Podium die Moderierenden in die Flucht schlug; oder wenn sie vor Studierenden saß: präsent, leidenschaftlich, ironisch und nicht zu beeindrucken, wenn man ihr nicht folgen mochte. „Hier stehe ich und kann nicht anders“, würde die dem schwäbischen Pietismus Entsprungene und Entlaufene dieses eine Mal mit Luther gesagt haben.
Von 1990 bis zu ihrem Tod 2006 war die – ja wa
211; ja was? – Soziologin, Kulturtheoretikerin, Schauspielerin, Publizistin, also: das Gesamtkunstwerk Gerburg Treusch-Dieter Mitherausgeberin des Freitag. Wie den Studierenden, Diskutierenden, Streitenden und Mitarbeitenden hat sie es auch uns nie leicht gemacht. Das hatte etwas mit ihrer anarchischen Arbeitsweise zu tun, mit dem disziplinübergreifenden Interesse und mit dem streckenweise undisziplinierten Blick – und mit ihrer physischen Person, die aus dem Nichts heraus eine Amazone werden konnte oder ein Gretchen, wenn sie es denn drauf anlegte.Kaum zu fassenDass eine solche Figur, von Anfang an Spaltmaterial in der feministischen Bewegung, kein „Werk“ im Sinne scholarischer Erbeverwaltung hinterlassen hat, wundert wenig, nicht nur angesichts einer Karriere, die sie vom Tübinger Mädchengymnasium (unabsolviert) über ein Au-Pair-Dasein in England zur Schauspielerei und von dort aus in die literarische Freiheit in Graz führte, bis sie schließlich doch noch, nach einem Begabtenabitur, studierte, in Hannover, wo der Feminismus theoretischer daherkam als in Frankfurt oder Berlin. Und doch hat sie nicht nur ein paar wenige, immer irgendwie zusammengefügt und gesponnen wirkende Bücher hinterlassen, sondern ein kaum zu bewältigendes Konvolut an Aufsätzen, Analysen und theoretischen Proklamationen, in jahrelanger akribischer Sammel- und Editionstätigkeit von einem Wiener Herausgeberquartett bearbeitet, die nun „ausgewählt“ vorliegen, thematisch gebändigt und jeweils klug eingeleitet.Wieder einzutauchen in diese weit ausschreitende Gedankenwelt und die herausfordernde Sprache ist ein Abenteuer, das in einer Rezension niemals ausgemessen, sondern höchstens angedeutet werden kann. Mit ihren radikalen Überlegungen zu „Finis Matrae“, der Suspendierung der „Mutterposition“ durch die Gen- und Reproduktionstechnologie, haben wir uns vor über 25 Jahren kennengelernt. Während die deutschen Frauen noch für die Fristenlösung auf die Straße gingen, erkannte Treusch-Dieter, dass das, was wir unter „Gebärautonomie“ verstanden, mit der leiblichen Auslagerung des Embryos längst obsolet geworden war. Das beinhaltete für sie, wie in dem Beitrag Sexualität und Fortpflanzung nachzulesen ist, auch eine kritische Revision der „sexuellen Revolution“, die sie miterlebt, -gelebt und wieder ins Reservoir des Nachdenkens zurückbeordert hatte. Sie dachte mit Michel Foucault. „Die Franzosen“ – von Foucault über Michel Serres bis hin zu Georges Bataille und Jean Baudrillard – waren ihr unhinterfragter theoretischer Bezugspunkt.Wenig bekannt ist aber, dass Gerburg Treusch-Dieter eine der französischen Bibeln der neuen Frauenbewegung mitübersetzt hat, Luce Irigarays Speculum, dieser Text, der Frauen vor Jahrzehnten in unergründliche anatomische Selbstbeobachtungen trieb, mit Spiegeln bewaffnet und am Ende doch irgendwie blind. Im Unterschied zu den die weibliche Sexualität mystifizierenden Französinnen wandte sich die Soziologin dann aber, auch durch die Zusammenarbeit mit Dietmar Kamper, der Historischen Anthropologie zu und den Grabungen im antiken Mythos, von den profunden Stoffkenntnissen der Schauspielerin zehrend. Ihre Tiefenschürfungen in der abendländischen Kultur, ihre nun wieder nachlesbaren Überlegungen zum Blut- und Opfermythos, sind beispiellos und überraschend; so wie es die unvergesslichen Gänge mit ihr durchs Pergamonmuseum waren.Ihr Denken kreiste um den Ort des Weiblichen unter den Bedingungen von Ein- und Ausschluss: Denn so wie sie die „Mutterposition“ als sozialen Schlüssel für das Geschlechterarrangement verstand, sosehr war sie davon überzeugt, dass es ein „Außen“, von dem aus das Patriarchat sturmreif zu schießen wäre, nicht existiert. „Frau“ kann nur als Involvierte gedacht werden, so ihre Überzeugung, als eine, die sich nicht heraussprengen kann aus dem System, wie sie schon in ihren 1984 angestellten Überlegungen zum Nationalsozialismus (Ferner als die Antike ... Machtform und Mythisierung der Frau im Nationalsozialismus und Faschismus) dargelegt hatte. Gerburg Treusch-Dieter wehrte sich stets gegen die Zumutung, positive Entwürfe oder Vorbilder in den Denkraum werfen zu sollen, sie verstand sich an einem Kreuzungspunkt lebend, wo es erst einmal darum ging, die Kraft der Kritik wiederzubeleben. Kritisiert hat sie von einer ganz fundamentalen Position nicht nur den Mythos Frau, sondern auch den Mythos Arbeit, wie ihn der Kapitalismus hervorgebracht hat – immer eingedenk jener verdrängten weiblichen Produktivkraft, die sie die „Spindel der Notwendigkeit“ nannte.Eine „großartige Kulturanthropologin“ nennt sie Oskar Negt, mit dem sie in enger Freundschaft verbunden war, in seinem Nachwort. Wie eine Anthropologin nomadisierte sie durch Universitäten und Länder, ohne wirklich heimisch zu werden in einer Institution, einer ultimativen Theorie oder einer ihr grundsätzlich suspekten Heimat, die man mit ihr am ehesten beim Rotwein in der Kneipe finden konnte – oder eben im Museum. Am Schreibtisch gab sie die Kalypso, die mit allen Mitteln stritt auf einer Bühne, auf der sie unangefochten stand. Bevor man sich noch einmal in den Fight mit dieser Denkerin einlässt, sollte man die luzide, in die feinen Nerven Treusch-Dieters strebende Einführung von Elisabeth von Samsonow lesen. Das Freiburger Freundespaar Eßbach vermittelt abschließend in einem persönlichen Essay, welchen Verlust die sehr spezielle Freundschaft dieser Frau bedeutet.
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