Katalog der Abschreckung

Asyldebatte Die Koalitionspolitiker überschlagen sich mit Vorschlägen, wie man Flüchtlinge schnellstmöglich wieder loswerden kann
Ausgabe 03/2016
Humanität war gestern. Heute will man Menschen in Not nur schnell loswerden
Humanität war gestern. Heute will man Menschen in Not nur schnell loswerden

Foto: Alexander Koerner/Getty Images

Beschleunigtes Asylverfahren – dieser Begriff könnte 2016 zum Unwort des Jahres aufsteigen. Was eigentlich als administrative Temposteigerung die Lage der Flüchtlinge hätte verbessern sollen, braut sich nun wie eine Verschwörung über ihnen zusammen. Derzeit überschlagen sich die Koalitionspolitiker mit Vorschlägen, wie man der „wilden“ Einwanderung begegnen und die ungebetenen Gäste schnellstmöglich wieder loswerden könnte.

Im Wochenrhythmus sollen tausende Asylsuchende, die keine Papiere mehr haben oder die aus angeblich sicheren Herkunftsländern kommen, beurteilt und abgeschoben werden. Wer es wagt, sich auch nur kurzfristig vom zugewiesenen Residenzort zu entfernen, verwirkt nach den inzwischen verschärften Regelungen des Asylpakets II sein Bleiberecht. Kranke Flüchtlinge sollen von handverlesenen Ärzten begutachtet und anschließend „rückgeführt“ werden. Der Familiennachzug – fraglos eine wesentliche Voraussetzung für die Integration – soll künftig generell erst frühestens nach zwei Jahren möglich sein. Für die meisten Flüchtlingsgruppen wird er sogar komplett ausgesetzt.

Noch vor einem Jahr hätte dieser Katalog der Abschreckung, der das individuelle Asylrecht praktisch aushebelt, einen Sturm der Entrüstung provoziert. Doch die nach Köln auf Turbo laufende Meinungsmaschine zeigt Wirkung. Humanitäre Bedenken waren gestern, wo heute deutscher Besitzstand und deutsche Frauen bedroht scheinen. Hätte es die „Nordafrikaner“ auf der Domplatte nicht gegeben, man hätte sie dorthin schicken müssen, um einen Anlass für weitere Asylrechtsverschärfungen zu haben.

Am widerwärtigsten jedoch ist die ständige Heuchelei. Integriert euch gefälligst, werden die jungen Männer aufgefordert, die man gleichzeitig von ihren Familien abschneidet. Schafft euch ein Auskommen, heißt es, und dabei hält man sie vom Arbeiten ab. Wer es erst gar nicht ins Land schafft, dem wünscht man viel Glück in der menschenrechtsfreundlichen Türkei.

Innenpolitisch ist daraus eine Art lustiges Merkel-Treiben geworden, in einem Jahr mit lauter lausigen Landtagswahlen. Nur dass bei dieser Treibjagd nicht Politiker, sondern Menschen ohne Perspektive auf der Strecke bleiben.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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