Kein Kostgänger der Volkswirtschaft

Teilhabe Christoph Butterwegge führt durch die Geschichte des Wohlfahrtsstaats und verweigert am Ende eine große Vision

"Der Professor aus Heidelberg" titulierte Gerhard Schröder kürzlich im TV-Duell mit Angela Merkel etwas abfällig Paul Kirchhof, um das Steuerkonzept seiner Herausforderin als abgehoben und weltfremd zu desavouieren. Dabei war es gerade der Kanzler, der der Professorenschaft in den letzten sieben Jahren in seinen diversen Räten und Kommissionen zu ungeahnter Popularität verhalf. Wer hätte sich sonst um die Meinung eines Bert Rürup und Bernd Raffelhüschen gekümmert oder um die Gesundheitvorstellungen eines Karl Lauterbach? Die konzertierte Expertenaktion dirigierte das Orchesterwerk, das vom Abbau der Lohnnebenkosten, vom Standort Deutschland und vom Umbau des Sozialstaates handelt, und die Meinungsmaschine nahm den Grundton - "sozial ist, was Arbeit schafft" - willig auf.

So stimmt es erleichtert, wenn sich hie und da, selten genug, ein dissonanter Ton einmischt und stört. In diesem Falle gehört die Stimme dem Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, der dem "politischen Frontalangriff auf den Sozialstaat" pariert. Mit Krise und Zukunft des Sozialstaats legt er eine engagierte Analyse vor, die das "Jahrhundertprojekt Wohlfahrtsstaat" als "europäische Errungenschaft" (Bourdieu) zu verteidigen und zu retten versucht. Der Sozialstaat, der über Jahrzehnte hinweg als deutscher Standortvorteil gefeiert wurde, so seine zentrale These, sei auch heute "kein Kostgänger der Volkswirtschaft", sondern vielmehr Voraussetzung für eine stabile und lebendige Demokratie.

Der Gedanke, dass alles was Arbeit schaffe, genuin schon sozial ist, stammt übrigens weder von den Liberalen noch aus Unions-Feder, sondern von Alfred Hugenberg, den die Nationalsozialisten dann bloß plagierten. Diesem Missverständnis - mit bitteren Folgen - saßen auch schon die durchaus bemühten Sozialpolitiker der Weimarer Republik auf, die, manchmal bis ins Detail, die Vorlagen für Hartz I-IV lieferten. Schon damals wurde die verfassungsrechtlich verankerte "aktive Sozialpolitik" abgelöst von einer "aktivierenden Sozialpolitik" und begleitet von einem propagandistischen Feldzug gegen "die wachsenden Soziallasten".

Der historische Abriss, den Butterwegge zunächst vom Kaiserreich bis in die frühen dreißiger Jahre vorstellt, liest sich frappierend. Richteten sich die Begehrlichkeiten am Anfang nur auf die außertariflichen Lohnbestandteile, so konzentrierte sich der Angriff in der Endphase der Republik auf die Tariflöhne, die Arbeitszeiten und die Betriebsverfassung. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise geriet auch die erst 1927 eingeführte Arbeitslosenversicherung unter Druck. Ganz ähnlich wie heute schränkte der Gesetzgeber die Versicherungsleistungen immer weiter ein und koppelte sie an die Arbeitswilligkeit und die Bedürftigkeit der Betroffenen. Notprogramme, die den Staat "verschlanken" und Maßnahmen, die die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft stärken sollten, flankierten den Sozialabbau: weniger Gesundheitsleistungen, stetig sinkende Löhne und die sogenannte "Ledigensteuer" auf der einen, sinkende Gewerbe- und Grundsteuern auf der anderen Seite. Nicht einmal die Erhöhung der Tabaksteuer ist ein rotgrünes Original, sondern stammt aus dieser Mottenkiste.

Insofern stellte der nationalsozialistische Staat keinen "Bruch" dar, sondern verstärkte nur die pronatalistische, auf die Erhöhung der Geburtenrate zielende Tendenz der Sozialpolitik (mit wenig Erfolg übrigens) und schloss bestimmte Gruppen aus der unterstützungsberechtigten "Volksgemeinschaft" aus. Die Erfolgsgeschichte des westdeutschen Wohlfahrtsstaates nach 1945 wiederum ist ohne den Niedergang des aggressiven Nationalstaates und die Systemkonkurrenz seitens der DDR kaum zu denken. Bis in die Mitte der siebziger Jahre schienen sozialstaatlichen Maßnahmen keine Grenze gesetzt: Von der Dynamisierung der Altersrente über die sozialrechtliche Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten bis hin zum Bundessozialhilfegesetz und Bafög. Aber es war auch nicht erst die konservative "Wende" unter Helmut Kohl, die den "Epochenbruch" markierte und die die auf Ausgleich gerichtete Sozialpolitik dem Wettbewerb opferte.

Im Mittelpunkt des analytischen Rückblicks stehen deshalb die drei Jahrzehnte zwischen 1974/75 (Ölkrise) bis 2005 und die Frage, wie der einstige "Modellfall Sozialstaat" zum Auslaufmodell werden konnte. Dabei unterstellt der Autor, dass die Sozialstaatsschelte ihren Furor gar nicht so sehr der ökonomischen Realität verdankt, sondern das Soziale im diskursiven Feld seinen Eigenwert verloren hat und in eine Sinnkrise geraten ist. Er macht dies fest an der Tatsache, dass sich die Sozialleistungsquote, also der Anteil, den der Staat vom Bruttosozialprodukt für Soziales aufwendet, seit den siebziger Jahren und selbst nach 1989 kaum verändert hat und Deutschland im europäischen Vergleich keineswegs ein Spitzenreiter bei den Sozialausgaben ist. Vielmehr zeigt die prinzipielle neoliberale, kommunitaristische und sogar die feministische Sozialstaatskritik Wirkung. Das Dogma der Lohnnebenkosten und der Standortnationalismus, die Kritik an der bürokratischen Bevormundung und die (als richtig eingeräumte) Forderung, sozialstaatliche Leistungen geschlechtergerecht zu verteilen, unterhöhlen den Nimbus des Wohlfahrtsstaats, der, so schließlich das populistische Zerrbild, nichts weiter als die "soziale Hängematte" kultiviere und den folgenden Generationen die Schuldenlast auferlege. Die "neoliberale Hegemonie" habe in den letzten drei Jahrzehnten einen "sozialpolitischen Ausnahmezustand" herbeigeredet und zu einer "FDPisierung der Medienlandschaft" geführt, der die "Umbau"-Rhetorik das maßgebliche Credo liefere.

Interessant ist, dass Butterwegge im Durchgang durch die einzelnen Politikfelder nicht etwa der Ära Kohl den wesentlichen "Sündenfall" anlastet, sondern der rotgrünen Koalition. Die konservativ-liberalen Kabinette hätten zwar die Voraussetzungen für den Systemwechsel geschaffen und die Sozialpolitik - beispielsweise mit der Einführung der Pflegeversicherung - in einen Wohlfahrtsmarkt umgemünzt, beides letztlich aber nicht durchgesetzt. An der Arbeitsmarkt-, Steuer-, Gesundheits-, Renten- und Familienpolitik diskutiert der Autor detail- und materialreich die Brüche und Widersprüche sozialstaatlicher Konzepte, die die Rolle von Individuen und Gemeinschaften neu bestimmen sollten. Konterkariert wurde die Reprivatisierung des Sozialen in den neunziger Jahren, weil die enormen Einheitskosten nicht zu privatisieren waren und die solidarische Haftung einseitig den Arbeitnehmern aufgebürdet werden sollten.

Doch auf der neokonservativen Neujustierung konnte die rotgrüne Regierungskoalition aufbauen, als sie den "aktivierenden Sozialstaat" (Ausweitung der Zumutbarkeitskriterien, Kontraktmanagement, subsidiäre Bedarfsgemeinschaften) ausrief, die Teilprivatisierung der sozialen Sicherung (Riester-Rente, Zuzahlungen) einleitete und das Prinzip der Lebensstandardsicherung - ein Dogma des Sozialstaates! - verabschiedete (Wegfall der beruflichen Statussicherung, Absenkung des Existenzniveaus). Dass damit durchaus auch positive Maßnahmen einhergingen - von der Homoehe über die Kinderbetreuung bis hin zu Verbesserungen im Gesundheitsbereich - verleugnet Butterwegge keineswegs.

Vernichtend allerdings beurteilt er die rotgrüne Steuerpolitik, die ein sozialdemokratisches Urprinzip, die Verteilungsgerechtigkeit, zugunsten der Unternehmen völlig aufgegeben habe: "Keine Bundesregierung vor ihr hat bessere Verwertungsbedingungen für das Kapital, günstigere Anlagebedingungen für (Groß-)Aktionäre und niedrigere Steuersätze für Unternehmen geschaffen." Nicht zuletzt dies führte - durchaus vergleichbar mit der Weimarer Zeit - zu einer tiefen Entfremdung zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften, ohne dass letztere allerdings aus der Defensive gekommen wären; möglicherweise, weil auch sie der Standortlogik verpflichtet blieben.

Das Kompendium des sozialstaatlichen Abschieds wird abgerundet mit einer eher theoretischen Diskussion über den Wohlfahrtsstaat der Zukunft, für die die sozialdemokratischen Programmdiskussionen herhalten müssen. Was wird zukünftig gerecht sein? Löst die Gerechtigkeit (zwischen Generationen, Geschlechtern) die Gleichheit ab? Sollen die kollektiven Sicherungssysteme zugunsten Subsidiarität und Eigenvorsorge aufgelöst werden? Überzeugten bis hierher die analytische Präzision und der synthetische Blick aufs große Ganze, wirkt die Auseinandersetzung nun eher kursorisch, fast hilflos. Was man an einzelnen Stellen - zum Beispiel im Hinblick auf die "Wiederlegung" demografischer Entwicklungen - noch durchgehen ließe, wird ärgerlich, wo substanzielle Einwände - etwa gegen die Bürgerversicherung - einfach weggewischt oder erst gar nicht zur Kenntnis genommen werden.

Überhaupt ist das Gewand des neu zu errichtenden Sozialstaates dürftig gefüttert: Über die Bürgerversicherung und die ergänzende - bedarfsabhängige! - Grundsicherung geht die Vision des Politikprofessors nicht hinaus. Das ist wahrscheinlich viel, misst man sie an den Plänen liberaler Totalprivatisierung; wenig allerdings, wenn man bedenkt, dass Gerechtigkeit mehr meint als nur Bedarfsgerechtigkeit und Gleichheit mehr als bloße Umverteilung innerhalb eines Solidarsystems. Sollte "der Heidelberger Professor" am Ende doch radikaler sein? Wenn ja, dann nur im Dienst der anderen Seite.

Christoph Butterwegge: Krise und Zukunft des Sozialstaates. VS Verlag für Sozialwissenschaften. Wiesbaden 2005, 318 S., 24,90 EUR


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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