Anfang des Jahres 1990, ich war wendebedingt gerade nach Berlin übersiedelt, kam ich anlässlich eines feministischen Vortrags im Senatssaal der Berliner Humboldt-Universität (heutzutage auch keine Selbstverständlichkeit mehr) ins Gespräch mit einer Frau, die sich als Ostberliner »Philosoph« vorstellte und mir unter anderem erzählte, dass sie von dieser Profession in der DDR durchaus hatte leben können. Einmal abgesehen davon, dass ich als Westlerin die Tatsache, »Philosoph« zu sein, - zumal für eine Frau - eher als intellektuellen Zustand denn als einkommensträchtigen Beruf betrachtete, überraschte und imponierte mir die selbstbewusste Art meiner Sitznachbarin. Damals noch heftig neugierig auf die jeweilige Schwester von »drüben«, vereinbarten wir einen Austausch, und tatsächlich erreichte mich im Mai 1990, mit einer hübschen DDR-Briefmarke versehen und auf dem typisch bräunlichen Papier, ein Brief:
»Im Moment«, schrieb die Bekannte von jenseits der Mauer, die damals noch stand, »kreist soviel durch meinen Kopf. Diese 'Revolution' hier: Die Eroberung bürgerlicher Freiheiten und ihre Folgen. Ich soll mich drüber freuen, hat man mir gesagt. Ich bemühe mich, aber so richtige Freude will einfach nicht aufkommen. Das geht mir alles zu hastig, zu überstürzt. Nicht dass ich etwas Grundsätzliches gegen die Deutsche Einheit einzuwenden hätte, das nicht. Aber dass sie nun nach mehr als 40 Jahren so holterdipolter unbedingt zum 1. Juli über die Bühne muss, hat wohl vor aller Vernunft politische Determinanten, ökonomisch besehen, ist dieser Termin für das künftige Deutschland in seinen sozialen Konsequenzen noch nicht übersehbar.« Das Schreiben schloss mit dem Wunsch, einmal etwas länger zu reden und »wie man hier jetzt zu sagen pflegt, vielleicht auch ein Projekt zu bekakeln.«
Über zehn Jahren, sind seither vergangen. Der Brief ist mittlerweile völlig vergilbt und lag lange vergessen in irgendeiner Kiste im obersten Regal meines Arbeitszimmers. Als wir uns damals trafen, wusste ich noch nicht, dass es sich bei der Absenderin um das eingeheiratete Mitglied einer ziemlich bekannten Intellektuellenfamilie der DDR handelte; mittlerweile hat sie sich als Autorin einen eigenen Namen gemacht, und ich entnehme ihren Büchern, dass dies ein sehr schmerzlicher Prozess gewesen sein muss. Unser Kontakt ist wie so viele aus dieser Zeit irgendwann abgebrochen.
Aus dem gemeinsamen »Projekt« ist übrigens nie etwas geworden. Wie aus so vielen nicht, die Frauen aus Ost und West damals in langen, weinseligen Nächten ausgeheckt haben. Heute will mir das scheinen wie ein Symbol für das Gesamtprojekt deutsch-deutscher Frauenbewegung, das Ende 1989, mit der Gründung des Unabhängigen Frauenverbandes der DDR, mit so viel Enthusiasmus begann - und, ja, wann und wo eigentlich endete?
Deutsch-deutsche Beziehungskiste: Liebe frühes Leid
Beziehungsgeschichten haben die Eigenart, dass nicht nur die Illusionen, sondern auch die Enttäuschungen auf den Partner projiziert werden, statt die Realität nach den Gründen des Scheiterns zu befragen. Je größer die Hoffnungen und Erlösungswünsche, desto tiefer der Absturz. Wenn man diesen häufig strapazierten Vergleich einmal gelten lassen will, war die deutsch-deutsche Frauenbewegung eine solche »Beziehungskiste«, gestiftet aus dem Bildkatalog exotischer Schwestern, die um so vorzüglicher als Projektionsfläche taugten, als sie sich gegenseitig fremd waren: Hie die wortgewaltigen feministischen Streiterinnen, dort die erprobten Straßenkämpferinnen, die ihren Staat einfach hinweggefegt hatten.
In der rasch ernüchterten Nachwendepraxis wurden dann die beziehungsüblichen Machtkämpfe und Dominanzansprüche ausgefochten. Sie mündeten in der Einsicht, dass wir, die »besserwisserischen Superemanzen« auf der einen und die ausgleichsbestrebten »Ost-Muttis« auf der anderen Seite einfach nicht zusammen passen. Im Geschlechterverhältnis enden solche Proben alltäglicher Barbarei entweder in der Trennung, in gleichgültiger Koexistenz oder in der therapeutischen Praxis. Letztere kann man einer politischen Bewegung kaum verordnen, doch man kann den Versuch unternehmen, die vergangenen zehn Jahre als eine Geschichte der strukturellen Überforderung zu lesen, die die Leipziger Stadtverordnete Monika Ziegler bereits 1992 beklagte: »Viele Feministinnen im Westen meinen, wir müßten hier nach zwanzig Jahren das Ruder herumreißen. Mit welcher Power, frage ich mich.«
Zur ersten ernsthaften Kraftprobe des neuen fragilen Schwesternbündnisses mit dem sich etablierenden Staat kam es 1991, als die in der DDR geltende Fristenregelung zugunsten eines eingeschränkten Abtreibungsrechts »erledigt« werden sollte. Dass hier das »Gesetz des Vaters« den neuen Töchtern »übergestülpt« werden sollte, provozierte erstmals echte Empörung. War dem parlamentarischen Abenteuer des Unabhängigen Frauenverbandes im Herbst 1990 wenig Erfolg beschieden gewesen, zeigte sich die deutsch-deutsche Frauenbewegung im Hinblick auf den Abtreibungsstreit erstmals offensiv. Es war schließlich ein von oben dekretierter höchstrichterlicher Beratungs-»kompromiss« nötig, um die Töchter zu »zähmen«. Und die sagten noch einmal gemeinsam, ein letztes Mal: »Jetzt reicht's! Frauenstreik.«
Risse kitten, Wunden entschmerzen
Wer die damaligen Kongresse und Beratungen im Vorfeld des Frauenstreiks am 8. März 1994 miterlebte, bekam eine Ahnung davon, dass dieser Streik mehr war als der Versuch politischer Gegenwehr. In den vier Nachwendejahren war es zwischen den Schwestern zu erheblichen Irritationen gekommen, und auch die Begegnungen während der Streikvorbereitungen blieben nicht aggressionsfrei. Die geplante Aktion war auch der Versuch, Risse zu kitten und beigebrachte Wunden notdürftig zu entschmerzen, indem frau auf die alles einende Formel »Frau« setzte. Als die narkotisierende Wirkung nachließ, blieben den wenig aktiv gebliebenen Ostschwestern die brüchigen Reste ihres Vereins, denen im Westen eine neue feministische Partei, die es nie schaffte, dem Randzonendasein zu entkommen.
Von heute aus gesehen ist die Frage, ob der Frauenstreik ein Erfolg war oder nicht, völlig irrelevant. Von heute aus gesehen wundern wir uns, dass es einen wie auch immer zu bewertenden »Streik« überhaupt gegeben hat. Von heute aus gesehen, hat der Streik eine damals theoretisch längst geläufige Annahme praktisch untermauert: Dass nämlich Frau nicht gleich Frau und auf dieser Basis ebenfalls »kein Staat« zu machen ist. Die Wende-Gewinnerinnen und -verliererinnen saßen und sitzen in West und Ost, und die -gewinnerinnen zeigen sich so wenig uneigennützig wie ihr männliches Pendant. Frauen sind eben keine besseren Menschen, und mittlerweile wollen ein paar von ihnen im Namen der Emanzipation sogar in den Krieg ziehen.
Die Politik und die Medien registrierten diese atmosphärischen Veränderungen seismographisch, und der Ende der neunziger Jahre gebetsmühlenhaft beschworene »Tod der Frauenbewegung« spülte den progressiv-liberalen Antifeminismus aufs politische Parkett. Ihm fiel sukzessive die Quote zum Opfer und das bislang erzwungen-verdrückte männliche Glaubensbekenntnis für die Frauen. Dass gerade jüngere Frauen nicht als »Gedöns« in Erscheinung treten wollen, ist ihnen kaum zu verübeln. Im Europa der »fittest« hat offenbar jede Art von »Gedöns« keinen Platz, so wenig wie pazifistische Verweigerer oder defaitistische Feministinnen. Deren »Nörgelei« hat man sich nunmehr auch bei den Bündnisgrünen weitgehend entledigt. Feminismus, der einstige Quotenrenner, heißt es nun, sei ein Quotenkiller.
Erinnerungskultur zwischen Nostalgie und Zynismus
Kein Ort. Nirgends. Fast jedenfalls. In Berlin zum Beispiel gibt es noch immer die Kiez-Projekte, die im Europa der fittest unter Professionalisierungsdruck stehen und keine Skrupel mehr haben, »Staatsknete« zu nehmen. Es gibt die wissenschaftlichen Zirkel, die um Anerkennung ihrer Zunftvorderen buhlen (müssen) und sogar einen Studiengang für Geschlechterstudien. Es gibt eine überbordende Kongresskultur, wo frau sich sehen lässt, east meets west und umgekehrt. Meist kennen wir uns noch von vor zehn Jahren, als die Szene noch nicht aufgespalten war in Referentinnen und lauschendes Publikum. 1998 feierte man in Westberlin die Erinnerung an die Tomate, die 1968 die geschwellte Brust jenes selbsternannten Sprechers der Revolution zum Erröten brachte. Im vergangenen Dezember feierte man das zehnjährige Bestehen des Unabhängigen Frauenverbandes, den es damals schon längst nicht mehr gab.
Zwischen den Deutschen in Ost und West wächst die Entfremdung, lese ich immer einmal wieder in der Zeitung. Auch die frauenbewegten Aktivistinnen haben sich auf ihre Residuen zurückgezogen, wo die gegenseitigen Vorurteile kultiviert werden. Am Stammtisch Ost blüht wehleidige Nostalgie oder der Galgenhumor; im Westen schmerzbetäubender Zynismus. Wer heutzutage als »Philosophin« überleben kann, hat Schwein gehabt oder geerbt, denn es ist in den letzten zehn viel mühseliger geworden, sich als »Privatgelehrte« über Wasser zu halten. Die »sozialen Konsequenzen« der Wende, von denen meine Bekannte in ihrem Brief sprach, sind heute ausmessbar.
Vielleicht haben wir uns zu viel vorgenommen, damals, und die gegenseitigen Erwartungen waren zu hoch gesteckt. Vielleicht war die Zeit der handlungsfähigen Kollektivsubjekte - ob sie nun »Arbeiterklasse« oder »Frau« heißen - auch schon abgelaufen. Ob es dieses gemeinsame WIR wirklich jemals gegeben hat, vermag ich heute nicht mehr zu sagen, aber es macht mich verdrossen, dass seit der Wende die Frauenministerinnen noch immer als »Alibi« aus dem Osten importiert werden, während die Zechenmeister der Nation stets aus dem Westen kommen.
Es liegt - aller Erinnerungskultur zum Trotz oder gerade deshalb - eine eigenartige Geschichtslosigkeit über diesem Land, die auch an den Frauen nicht vorbeigeht. »Frauenstreik?«, fragen mich junge Frauen gelegentlich und schütteln ratlos den Kopf. Die jüngeren Frauen kennen bewusst nur die neue Republik; wie kann man ihnen den kleingeistigen Mief der fünfziger und sechziger Jahre, in dem wir - in Ost und West! - aufwuchsen, noch erfahrbar machen?
Meine verloren geglaubte Bekannte habe ich vergangenes Jahr übrigens wieder getroffen, diesmal ganz formell anläßlich eines Interviews. Ihre Ehe, erzählt sie mir beim Frühstück, sei mittlerweile gescheitert, die Familie auseinandergebrochen, und die großbürgerliche Wohnung könne sie bald nicht mehr halten. Wir sprechen über die beiden Deutschländer, und meine Gastgeberin vermutet, dass die Ostdeutschen den Westdeutschen mittlerweile im Vorteil seien bei dem, was sich Globalisierung nennt, weil sie in Anpassung besser trainiert seien.
Damals leuchtete mir ihre Überlegung ein, nicht zuletzt, weil ihre Wandlung von der Hegel deklinierenden Philosophin zur populären Autorin und Kolumnistin das beste Beispiel zu sein schien. Heute allerdings lese ich in einer von der PDS in Auftrag gegebenen, eben veröffentlichten Studie, dass nach wie vor und trotz lebhafter Konjunktur noch immer jede fünfte Frau in Ostdeutschland arbeitslos ist; über die Hälfte arbeiten in prekären Arbeitsverhältnissen oder ungewollt Teilzeit; wer auf dem Normalarbeitsmarkt nicht landet, macht sich als »Unternehmerin« selbständig. In den Gazetten wird das als »Emanzipation« gehandelt.
An dieser Tendenz hat weder eine autonome noch eine gewerkschaftliche Frauenbewegung etwas ändern können; Solidarität ist offenbar ein Luxus geworden, den sich die neuen Marktkämpferinnen so wenig leisten können wie Kinder. »Ich bin umgezogen«, teilte mir die Bekannte dieser Tage per mail mit. »Das Haus ist verkauft und totalsaniert.« Der Markt nimmt keine Rücksicht auf frei schwebende Existenzen.
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