Keine DIN-Norm der Erinnerung

Tätertrauma Eine Tagung fahndet nach der "Politik der Schuld" und der Unverbindlichkeit historischer Verantwortung - (auch) ein kleiner Beitrag publizistischer Selbstaufklärung

In der Zeitung Die Tat (bis in die achtziger Jahre das Zentralorgan der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und eine der westdeutschen Vorgängerzeitungen des Freitag) vom 29. September 1962 findet sich eine eigenartige Laudatio: Sie ist dem Rathenau-Attentäter Ernst von Salomon gewidmet, einem "Mann mit Vergangenheit", wie schon der Titel verspricht. Darin werden die "politischen Irrungen und Wirrungen" des in "rechtsradikalen Geheimbünden" agierenden ehemaligen Offiziers und seine "innere Emigration" nach 1933 zwar nicht verschwiegen, doch bescheinigt der Autor des Beitrags Salomon so etwas wie eine "innere Umkehr", die aus dem einstigen Bombenleger einen Fighter gegen die Bombe - Salomon nahm an der Tokioter Weltkonferenz gegen die Atombombe 1961 teil - gemacht habe.

Der Hamburger Soziologe Ulrich Bielefeld, der dieses Detail aus der jüngeren Nachkriegsgeschichte seiner Zuhörerschaft zur Kenntnis brachte, schien irritiert, dass eine Zeitung mit so explizit antifaschistischer Ausrichtung einen Autor würdigte, der 1951 im ersten bundesdeutschen Bestseller (Der Fragebogen) nicht müde wurde, die Schuld seiner Generation aufzurechnen gegen die Schuld der Alliierten und die indifferente Gewalt, die von der Atombombe ausgegangen sei. Reichte das "Kartell des Schweigens" selbst ins Lager derer, die so dezidiert das "nie wieder!" auf ihre Fahnen geschrieben hatten, und was hieße dies für die Wirkmächtigkeit der mythisch gewordenen "Stunde Null"? Oder wurde hier nur ein Autor hofiert, der sich bei den Bundestagswahlen 1961 für die Deutsche Friedens-Union stark gemacht hatte und sich nun dem "linken" Anti-Amerikanismus anschloss?

Solche, die konkreten Figuren oder Bedingungen beleuchtenden Fragen stellte sich die vom Deutschen Historischen Museum und dem Hamburger Institut für Sozialforschung initiierte Tagung Politik der Schuld, die die große Ausstellung Mythen der Nationen - Arena der Erinnerungen (vgl. Freitag 48/2004) abschloss, indessen nur selten. Nicht individuelle Schuld oder Verantwortung, nicht Tat oder Täter, sondern der politische Umgang mit der historischen Schuld und deren "Selbstthematisierungen" standen im Mittelpunkt einer rein männlichen Veranstaltung, die sich sichtlich um objektivierende Distanz bemühte. Denn schon längst geht es ja nicht mehr darum, die Schuldlast zu wägen, abzutragen oder eben zu (er)tragen, sondern darum, sie zu relativieren: Die aufgeregte Debatte um das Zentrum für Vertreibung steht für die Umkehr der Beweislast ebenso wie die aktuelle Auseinandersetzung darüber, wie die alliierte Bombardierung deutscher Städte zu bewerten oder ob gegenüber Polen oder Tschechien "Wiedergutmachung" anzumahnen sei.

Diese die heutige Diskussion prägende, eigenartige Verkehrung des Täter-Opfer-Schemas ist anderer Art als die Schuldabwehr in der unmittelbaren Nachkriegszeit, wo die Dämonisierung des Bösen ein ganzes Volk von "Verführten" produzierte oder die "Erfindung der Kollektivschuldthese" eine in "heroisches Schweigen" gefallene Elite entlastete und reinigte. Der Historiker Norbert Frei verfolgte die Schuldbearbeitung idealtypisch nach Alterskohorten: Während die um 1905 geborene "Funktionselite" fast durchweg die Schuld von sich wies, war es die "Flakhelfer-Generation", die bis in die jüngste Zeit das Interpretationsmonopol besetzte und die nach ihr benannte "Vergangenheitsbewältigung" organisierte. Daran änderte auch die Deutungskonkurrenz der Achtundsechziger nichts, die den Faschismus als ideologiekritisches Projekt auf die Agenda setzten.

Erst nach 1989 und seitdem die Zeitgenossenschaft am Nationalsozialismus selten wird, die unmittelbaren Agenten der Schuld ebenso aussterben wie die überlebenden Opfer, zeichnet sich ein neues Narrativ ab. Es scheint, so Frei, als ob die "unschuldigen Kriegskinder", von Versöhnungs- und Identifikationsbedürfnissen beseelt, sich ihren Eltern nachträglich empathisch näherten, um "die Toten zu betrauern". Die eigentlichen Opfer des Holocaust träten nun zurück zugunsten der Opfer in den eigenen Reihen und der Schuld der Anderen. Dass eine solche idealtypische Rubrizierung einerseits die sozialen Lagen (und damit die unterschiedlichen Betroffenheiten) unberücksichtigt lässt und andererseits, wie vielfach kritisiert wurde, das generalisierte westdeutsche Beispiel die ostdeutsche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus unterschlägt, räumte der Historiker eilfertig ein. An seine kurzärmelige Analyse, in der DDR habe der antifaschistische Gründungsmythos die Schuldbearbeitung verstellt, ließen sich allerdings zahlreiche Fragen anschließen.

Was also nach 1945 Abrechnung und entlastende Aufrechnung war, ist mittlerweile einer "Psychodynamik der Generationsfolge" gewichen, die die "verborgenen Traumata" aktualisieren. Die vom Vertriebenendiskurs oder vom "Zerstörungsepos" auf den Plan zitierten neuen Protagonisten der Schuld sitzen nun jenseits: In Polen, das mit Entschädigungsoptionen traktiert wird oder in Tschechien, das sich aufgefordert sieht, die Benes-Dekrete rückgängig zu machen.

Dabei ist die politische Instrumentalisierung der Schuld und des Schuldbewusstseins kein einseitiges Geschäft, zumal nicht in den osteuropäischen Ländern, die sich mehr mit der jüngsten kommunistischen Nachkriegsära als mit der NS-Geschichte auseinandersetzen und an diesem exemplarischen Fall die politisch-moralischen Fragen von Kollaboration und Widerstand, Schuld und Opfer ausmessen. In Polen, wo die Vertreibung jahrzehntelang als gerechte Strafe für die deutschen Verbrechen interpretiert wurde, befasst man sich erst in den letzten Jahren und abseits der deutschen Wahrnehmung mit der "Zwangsaussiedlung". Wäre der von Adam Krzeminski und Adam Michnik unterbreitete Vorschlag, das Zentrum für Vertreibung in Breslau statt in Berlin anzusiedeln, hier zu Lande auf wachere Ohren gestoßen, vielleicht wäre der deutsch-polnische Vergangenheitsdialog zu retten gewesen und nicht in unautorisierten und absurden Restitutionsansprüchen versandet. Es gibt eben keine DIN-Norm der Erinnerung, kommentierte Hans-Jürgen Bömelburg das polnische Beispiel.

Umgekehrt und im Unterschied zu Tschechien, das sich stellvertretend mit Václav Havel im Dezember 1989, noch kurz vor seiner Wahl zum Staatspräsidenten, für die Folgen der Benes-Dekrete entschuldigt hatte, verweigert Polen, des eigenen "nationalen Martyriums" (Krzeminski) gewiss, seinerseits jedes öffentliche Bedauern, wie wohl auch die polnische Teilhabe an der Judenverfolgung ein schmerzliches Thema der Nationalgeschichte ist. Doch eben diesen symbolischen Entschuldungsakt forderte Adam Krzeminski in seinem Eröffnungsvortrag nun von Russland. Dass dieses sich anlässlich des 60. Jahrestages des Kriegsendes als Held der Befreiung feiern wird, unbeleckt allen Schuldbewusstseins, als ob dem Reich Putins die Canossa-Gänge des 20. Jahrhunderts nicht anstünden, empört den polnischen Publizisten offenbar über alle Maßen.

Hätte Václav Havel allerdings geahnt, so Jan Pauer in seiner engagierten Verteidigung des tschechischen Weges, dass mit seinem symbolischen Kniefall der durch das Potsdamer Abkommen garantierte Status quo gefährdet und die Sudetendeutschen daraus ökonomische Forderungen ableiten würden, hätte er möglicherweise geschwiegen. Seither jedenfalls ist die deutsch-tschechische Vergangenheitspolitik einer unterschwelligen gegenseitigen "Verdachtskultur" (Pauer) ausgesetzt. Kompliziert liegen die Dinge auch deshalb, weil es sich in diesem Fall - und im Unterschied zu Polen, das sich auf die Garantien des 2+4-Vertrages beziehen kann - um eine nur bilaterale Auseinandersetzung handelt, und andererseits die Unantastbarkeit die Benes-Dekrete wiederum eine Voraussetzung für die Aufnahme Tschechiens in die EU war.

Der Kniefall Willy Brandts 1970 in Warschau hat sich als Akt symbolischer Entschuldung durch einen Unschuldigen in das Gedächtnis der Völker eingeschrieben. Darin ist nicht nur, wie der Theologe Klaus Tanner ausführte, ein christologisches Erlösungsversprechen aufgerufen, sondern er hat auch zu einer, wie Daniel Levy von der State University New York konstatierte, "Kosmopolitisierung des Erinnerungsrituals" geführt. Durch seine Lösung aus dem Kontext wird der Holocaust global vereinnahmbar und nach Bedarf in einen anderen Bezugsrahmen gesetzt. Die damit einher gehende Renationalisierung sei nun aber weniger staatstragender Natur, sondern befördere die jeweils spezifische kulturell-soziale Identität.

Insofern ist der Historikerstreit der achtziger Jahre nicht vergleichbar mit der Debatte über die Vertreibung. Die massenmediale Entdeckung deutscher Opfer ist ein später Ausfluss der schon in der Gründung angelegten strukturellen Zwiespältigkeit der deutschen Staatlichkeit, wie Klaus Naumann ausführte. Denn die Gründung der "provisorischen" Bundesrepublik als Nachfolgestaat des "Dritten Reiches" befestigte den damaligen Konsens, dass die erlittenen Gebietsverluste nur provisorisch, die Aussiedlung unrechtsmäßig und die Vertreibungsverbrechen unentschuldbar seien. Die Ostpolitik habe zwar zu einer "operativen Beweglichkeit" in der Außenpolitik geführt und der 2+4-Vertrag die bestehenden Territorien weitgehend abgesichert, doch durch die Übernahme des alten Staatsangehörigkeitsrechts sei den Vertriebenen immer eine hervorgehobene Stellung zugekommen, die nun politisch ausgespielt würde.

Die Haftungskontinuität allerdings, die aus der Reichsnachfolge logisch resultiert, kann auch als Chance verstanden werden, wenn die Schuld in eine besondere Verantwortung transponiert wird, deren sich das Kollektiv bewusst ist. Allerdings ist es mit der politischen Verantwortung, wenn ihr keine Taten folgen, so eine Sache: Sie stiftet einen Konsens, der auf dem folgenlosen Offenhalten der Dinge gründet. Jan Philipp Reemtsma prägte dafür den Begriff der "Aporieformel". Mit dem Holocaust-Mahnmal und dem Zwangsarbeiterfonds ist die Schuld endgültig abgedient.

Aus der Auseinandersetzung um die Flick-Collection destillierte Reemtsma den aporetischen Gehalt von Schuld und Verantwortung heraus. In der Debatte sei individuelle Schuld ("Blutgeld" des Flick-Konzerns), von Friedrich Christian Flick verantwortungsvoll übernommen (Sammlung, Stiftung), in eine neue kollektive Schuld ("Moralische Weißwäsche von Blutgeld mit öffentlicher Unterstützung") umgedeutet worden. Obwohl Reemtsma gewohnt strukturtheoretisch argumentierte, war sein Beitrag einer der wenigen auf dieser Tagung, der ahnen ließ, dass die "Politik der Schuld" eben nicht nur aus dem Zeugenstand zu betrachten ist. Dass Samuel Korn in seiner Intervention gegen die Flick-Collection ausgerechnet ihn, Reemtsma, mit Flick kontrastierte und als den "besseren Erben" der Schuld auslobte, ließ Reemtsma nicht gelten. Die Vererbbarkeit von Schuld misst sich nicht an der Art der Verantwortungsübernahme.


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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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