Man sei auf alles vorbereitet, lautet die variiert wiederholte Botschaft aus dem Bundesgesundheitsministerium und seitens der zuständigen Minister in den Ländern im Hinblick auf Corona. Die semantisch hoch dosierten Beruhigungspillen sollen einer möglichen Panik entgegenwirken, wie sie derzeit in Ländern wie Italien zu beobachten ist, wo Infektionszahlen und Todesfälle stündlich steigen. Doch forscht man in niedergelassenen Arztpraxen oder in den Krankenhäusern in den Gebieten nach, die vom Virus derzeit besonders betroffen sind, stellt sich die Lage anders dar.
In einem Brandbrief an die Gesundheitsminister Jens Spahn (Bund) und Karl-Josef Laumann (Nordrhein-Westfalen) kritisierte ein Zusammenschluss von Hausärzten aus dem Ruhrgebiet vergangene Woche die mangelhafte Ausstattung mit Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln. Ärzte berichten, dass sie Internet und Baumärkte abklappern, um sich das nötige Material zu beschaffen. Die drei Krankenhäuser im besonders betroffenen Kreis Heinsberg haben ihre Belastungsgrenze erreicht, der zuständige Landrat Stephan Pusch befürchtet sogar den Zusammenbruch der dortigen medizinischen Versorgung. Zudem führen die Quarantäne-Auflagen für medizinisches Personal, das mit Corona-Patienten in Berührung gekommen ist, dazu, dass ganze Stationen wie in Aachen geschlossen werden müssen. Nachdem sich Kliniken und Arztpraxen über diese Empfehlung einfach hinweggesetzt haben, um den Betrieb aufrechtzuerhalten, sah sich das Robert-Koch-Institut genötigt, diese Regelung zu lockern.
Uneinigkeit besteht auch darüber, ob im Ernstfall in Deutschland genügend Krankenhausbetten zur Versorgung von Corona-Patienten zur Verfügung stehen. Der an der Charité tätige Virologe Christian Drosten ist davon überzeugt, dass mit der sofortigen Aufstockung von Intensivbetten begonnen werden muss, um für den Herbst, wenn mit einem neuerlichen Infektionsschub gerechnet wird, vorbereitet zu sein. Die in Deutschland verfügbaren 28.000 Intensivbetten sind in der Regel zu 80 Prozent belegt, für die Isolierung von Hochrisikopatienten stehen ohnehin nur 60 Betten bereit. Aber selbst wenn es sich um Patienten handelt, die nur mild erkrankt sind, können sie wegen der Ansteckungsgefahr nicht in Mehrbettzimmern untergebracht werden, was für die Krankenhäuser wiederum Belegungsbeschränkungen nach sich zieht und den Normalbetrieb behindert.
Wen wollen wir retten?
Das führt zu einer Situation, die schon vor Jahren immer wieder einmal aufs gesundheitspolitische Tapet gebracht wurde: Priorisierung. „Wen wollen wir retten“, erklärt Drosten das Szenario, wenn beispielsweise nur eine begrenzte Zahl von Beatmungsgeräten bereitstehe, „einen schwer kranken 80-Jährigen oder eine 35-Jährige mit einer rasenden Viruspneumonie?“ Andreas Gassen von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung hält es für „blanken Unfug“, sich für „theoretische Eventualitäten“ zu wappnen. Anders beurteilt es Klaus F. Rabe von der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin, der „keine Puffer“, von der personellen Besetzung bis zu den Lieferketten, mehr sieht. Das gilt nicht nur für die Schutzausrüstung für das medizinische Personal, die Spahn nun staatlich bewirtschaften lassen will, sondern vor allem auch für überlebenswichtige Medikamente wie Antibiotika, die in Indien oder China hergestellt werden und die dort nun entweder selbst benötigt werden oder deren Produktion zusammengebrochen ist.
Dabei muss man gar nicht das Horrorszenario aufrufen, das in einer von der Bundesregierung 2013 beauftragten Studie über die Auswirkungen einer Pandemie für die deutsche Bevölkerung entworfen wurde. Sie prognostizierte, dass an einem Virus wie Covid-19 zehn Prozent aller Infizierten sterben und sich 90 Prozent der Bevölkerung anstecken. Damit ist zwar nicht zu rechnen, doch die verfügbaren 497.000 Krankenhausbetten (2017) würden auch bei einem sehr viel geringeren Ansturm von Corona-Kranken nicht ausreichen, vom ohnehin heute schon fehlenden medizinischen Personal, das durch Infektionsausfälle noch reduziert würde, ganz abgesehen.
Dramatisch ist die Situation auch im Öffentlichen Gesundheitsdienst. Schon der Ärztetag 2014 beklagte die fatale Unterbesetzung der Gesundheitsämter und den nicht ausgebildeten und deshalb ausbleibenden Nachwuchs. Doch nicht nur in Berlin ist heute die Hälfte der Amtsarztstellen nicht besetzt. Schon jetzt können reguläre Aufgaben wie etwa die Schuleingangsuntersuchungen nicht mehr erledigt werden, und Hilfesuchende suchen in den Gesundheitsämtern vergeblich nach Ansprechpartnern.
Dabei muss man sich in Erinnerung rufen, dass diese prekäre Lage in der ambulanten, stationären und öffentlichen Gesundheitsversorgung, die in Zeiten epidemischer Ereignisse besonders virulent wird, nicht wie ein plötzlicher Tsunami über uns kommt. Sie ist vielmehr Folge politischer Weichenstellungen, die Mitte der 1970er Jahre in Westdeutschland ihren Ausgang nahmen. Unter dem Eindruck konjunkturellen Schwächelns wurde damals eine das gesamte Gesundheitssystem umfassende „Kostendämpfungspolitik“ auf den Weg gebracht, in deren Folge unter anderem das Selbstkostendeckungsprinzip der Krankenhäuser ausgehebelt wurde. Zunächst durch Budgetierung, dann durch die Einführung von Fallpauschalen und „Qualitätskonkurrenz“ gerieten diese immer stärker unter Wettbewerbsdruck. Aus dieser Konkurrenz gingen investitionsträchtige Gewinner oder von Schließung bedrohte Verlierer hervor, mit der darauf folgenden bekannten Privatisierungswelle.
Es geht nicht nur um Geld
Die derzeitige Forderung an die Kliniken, möglichst viele Betten für Corona-Patienten vorzuhalten, ist reiner Hohn für die nicht zuletzt von Rot-Grün in den Wettbewerb getriebenen, nach Effizienzkriterien wirtschaftenden Krankenhäuser, die die durch aufgeschobene Operationen, nicht belegte Betten oder krankes Personal anfallenden Verluste intern nicht kompensieren können. So droht die sich jetzt andeutende Corona-Krise zu einer kaum mehr zu beschönigenden, reparablen und zu bewältigenden Krise des Gesundheitssystems auszuwachsen. Verstärkt wird sie durch den Zwang zur Risikoauswahl: Wer entscheidet, wem was zusteht, wer behandelt oder wer gegebenenfalls medizinisch aufgegeben wird?
Inzwischen werden angesichts der Versorgungsengpässe mit Medikamenten und anderem medizinischen Bedarf – auch dies Folge ökonomischer Entscheidungen – immer mehr Stimmen laut, die fordern, einen Teil der Produktion wieder nach Deutschland zu holen. Die Corona-Epidemie könnte – bei allen dramatischen Begleiterscheinungen – hier vielleicht auch zu einem grundlegenderen Umdenken führen und zur Einsicht, dass Patienten kein vermarktbares „Gut“ sind, medizinisches Personal nicht nur „Kostenfaktor“ und Kliniken kein renditefähiges Investitionsobjekt. Wenn im Zuge von Corona das Vertrauen in die Gesundheitseinrichtungen schwindet, hat das fatale Folgen für die Bewältigung der Epidemie. Doch es könnte auch den Blick schärfen dafür, wie ein leistungsfähiges und nachhaltiges Gesundheitssystem auszusehen hätte. Die Ärzte, die sich derzeit im Tarifkampf befinden, zeigen, dass es nicht um Geld, sondern um bessere Versorgungsbedingungen geht.
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