Keine Sternstunde

Gesundheitsgesetz verabschiedet Ohne Mut zur Vernunft, nur mit dem Mut der Verzweiflung

Wenn sie auf die "Sternstunde des Parlaments" zu sprechen kommt, beginnen Margot von Renesses Augen noch immer zu glänzen. Im Marie-Lüders-Haus erinnert sich die ehemalige Vorsitzende der Bioethik-Enquete an jenen Tag vor fünf Jahren, an dem nach intensiver Debatte in einer Weltanschauungsfrage das nicht vom Kabinett, sondern von Abgeordneten fraktionsübergreifend erarbeitete Stammzellgesetz verabschiedet worden war. Während sich Renesse warm redet, tagt 100 Meter weiter der Gesundheitsausschuss, dessen Mitglieder im Schweinsgalopp die letzten 81 Änderungsanträge zur Gesundheitsreform nehmen. Diejenigen, die den "Murks" nicht per Unterschrift segnen wollen, entziehen sich ganz und schicken ihre Stellvertreter.

Keine Sternstunde war es schon, nicht einmal eine Sternschnuppe, als dieses Reformwerk am Horizont aufschien. Und ein schwarzer Tag für das Parlament, als das Gesetz, proporzgedrechselt, kommissionsgeschüttelt und öffentlich zerredet endlich an die Abgeordneten zum Durchwinken gereicht wurde. Die leergefegten Sitzreihen der Koalition erzählten von Überdruss und Ermüdung, da erlaubten sich höchstens noch die Experten ein Gewissen, das zur Präsenz verpflichtete; die gut gefüllten Bänke der Opposition bewiesen den Mut der Verzweiflung angesichts einer zahlenmäßigen Übermacht, die wohl auch vom Bundesrat nicht mehr zu ändern ist. Wie im Vorfeld guter parlamentarischer Usus aufgekündigt, Abgeordnete in Abstimmungspflicht, Ausschussmitglieder umgangen, vertröstet und verprellt wurden, zeugt nicht nur vom Chaos der Macher, sondern auch von der Arroganz der Macht, die sich schon vor der letzten Schlacht auf der Siegerseite weiß. Seit langem hat man die Gesundheitsministerin nicht mehr so strahlen sehen, während die Kanzlerin ihr die Wangen tätschelte, symbolisch. Und ansonsten kein öffentliches Wort verlor, das wie ein Mühlstein auf sie zurückrollen könnte. Angela Merkel hat gelernt, dass man sich mit Gesundheitsdingen nur krank reden kann.

Wenn am 1. April das Gesetz wie geplant in Kraft tritt, wird kein Mensch wissen, was sich nun eigentlich ändert, allen öffentlichen Gelabers zum Trotz. Das ist auch kein Wunder, denn zunächst wird sich für die Allermeisten, wenn sie nicht gerade eine Reha-Leistung in Anspruch nehmen wollen, sich piercen lassen oder im Sterben liegen, wenig ändern. Die Heimtücke dieses Gesundheitsgesetzes besteht in den unabsehbaren finanztechnischen Langzeitwirkungen: Bundeszuschuss, Zusatzprämie, Gesundheitsfonds. Momentan sind "nur" die Beitragserhöhungen der Kassen spürbar, und die sind aus Wettbewerbsgründen kalkulierbar. Ab 2009 wird das Risiko unkalkulierbar, sollte ein neues Regierungsbündnis nicht das ganze Konvolut noch einmal auseinander nehmen und neu binden. Doch wenn es schon dem Parlament an solchem Mut zur Vernunft mangelte, woher sollte er einem wie auch immer zusammengesetzten Kabinett zuwachsen?

Weitere Reformkür auf dünnem Eis steht dieser Regierung außerdem noch ins Haus: Arbeitsmarkt, die überfällige Reform der Pflegekasse, die gerade wieder einmal aufgeschoben werden soll - mit gutem Grund. Denn während Krankheit zu den unberechenbaren Risiken gehört, sind Alter und Pflegebedürftigkeit ein erwartbares Schicksal. Der Gesundheitsstreit war von interessegeleiteten Lobbyisten geprägt; die Pflegedebatte könnte eine werden, die die Zivilgesellschaft als Ganze herausfordert, weil sie das Verhältnis der Generationen betrifft, die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und die Frage lösen muss, wem die Care-Arbeit künftig zufällt. Richtig geführt, könnten an dieser Debatte endlich einmal nicht nur Fachleute, sondern alle beteiligt sein. Vielleicht finden Abgeordnete dann auch wieder zu ihrem Gewissen zurück und zu einer neuerlichen "parlamentarischen Sternstunde". Viel Aussicht besteht allerdings nicht: Zur aktuellen Stunde die Pflegereform betreffend waren am Freitagnachmittag nicht einmal mehr zehn Prozent der Parlamentarier anwesend.


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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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