Keine Zeit für Gerechtigkeit

Sondierung Was die SPD in Sachen Rente, Pflege und Gesundheit mit der Union ausgehandelt hat, ist ein trauriger Witz
Ausgabe 03/2018

„Ich will eine Bürgerversicherung“, verkündete die SPD-Linke Hilde Mattheis nach Abschluss der Sondierungsgespräche zwischen Union und SPD. Sie brachte damit ihren Unmut über die Verhandlungen und ihren Widerstand gegen eine absehbare neue große Koalition zum Ausdruck. Nicht wenige Parteigenossen geben ihr recht: denn was die SPD in Sachen Gesundheit, Pflege und Rente herausgeholt hat und nun vollmundig anpreist, ist jenseits dessen, wofür sich der Kotau, sich überhaupt noch einmal an den Verhandlungstisch zu setzen, gelohnt hätte.

Die von Martin Schulz vor den Wahlen in großen Lettern angeschlagene Verteilungsgerechtigkeit erschöpft sich in Sachen Gesundheit auf eine Wiederherstellung des Status quo, den seine eigene Partei, auch das räumt Mattheis ein, selbst ausgehebelt hat: die Wiederherstellung der Parität der Krankenkassenbeiträge von Unternehmen und Erwerbstätigen. Das stand ohnehin lange auf der Agenda, weil angesichts sprudelnder Gewinne überhaupt nicht mehr gerechtfertigt werden kann, warum nur die Versicherten für Kostensteigerungen und den medizinischen Fortschritt aufzukommen haben. Deren Gesundheit wird im Laufe ihres Arbeitslebens verschlissen und nicht aufgrund von Skiunfällen in St. Moritz. Mehr konnte die SPD der Union jedoch nicht abringen. Nicht die lange diskutierte Angleichung der Arzthonorare – ein schmaler Stolperpfad in die Bürgerversicherung –, keine Wechselmöglichkeit für Beamte in die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und auch keine Strategie, wie dem Ärztemangel auf dem Land begegnet werden kann. Herausverhandelt wurde lediglich eine weitere Selbstverständlichkeit: dass nämlich Hartz-IV-Empfänger wieder kostendeckend versichert werden und deren Gesundheitskosten nicht zulasten der Versichertengemeinschaft gehen. Man würde sich einen solchen Schritt auch bei den Rentenbeiträgen wünschen.

Die Sprecher der Ärzteverbände feiern das Ergebnis. Ob sie tatsächlich den Willen der Masse der niedergelassenen Ärzte und der überlasteten Mediziner in den Krankenhäusern zum Ausdruck bringen? Letzteren werden zwar „mehr Investitionen“ versprochen und den Pflegekräften eine leichte Anhebung des Pflegeschlüssels. Doch ein großer Plan, wie das marode System länderfinanzierter Krankenhäuser abgelöst werden könnte, war offenbar kein Thema in der Sondierungsrunde.

Und die Lösung des „Pflegenotstands“, der medienwirksam kurz vor den Wahlen aufs Schild gehoben wurde? Ein Witz! Das Haus von CDU-Gesundheitsminister Gröhe selbst rechnet vor, dass bis 2050 bis zu 200.000 zusätzliche Pflegekräfte nötig sind. Und diese Regierung in spe will in den nächsten vier Jahren gerade mal 8.000 neue Arbeitsplätze in der Pflege schaffen! Gleichzeitig kündigt sie einen unter Umständen steuerfinanzierten Flächentarifvertrag an, statt sich darüber Gedanken zu machen, ob man nicht eher an die Gewinne, die die „Altenindustrie“ abwirft, heranmüsste. Dass Pflegeschüler künftig vom Schulgeld befreit werden müssen, bedarf angesichts des Nachwuchsmangels wohl ohnehin keiner Debatte mehr.

Ach ja, und da ist dann noch die Rente. Ein stabiles Rentenniveau von 48 Prozent bis 2025 sagen Experten bei guter Konjunktur ohnehin voraus. Aber nun doch eine „Grundrente“ – man will es kaum glauben. Die „Lebensleistungsrente“ stand zwar auch schon im vorigen Koalitionsvertrag, wurde aber nie realisiert. Jetzt dürfen angehende Rentner, wenn sie 35 Jahre malocht haben – und wer wird das künftig noch schaffen? –, ihre Vermögensverhältnisse von der Deutschen Rentenversicherung unter die Lupe nehmen lassen, um bei Bedürftigkeit zehn Prozent mehr als die Grundsicherung zu erhalten. Hoffentlich schlagen die kampferprobten Babyboomer – also der Teil, der sich nicht in die Institutionen gerettet hat – einmal zurück.

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden