Soziales Schwarz-Rot ist auf der Zielgeraden. Das größte Problem ist die Gesundheits- und Sozialpolitik. Ein großer Wurf wäre nötig. Aber danach sieht es nicht aus
Ene, mene, mu, welchen Wunsch hast du? Kita-Tag bei den Koalitionären in Berlin. In der einen Ecke hocken die Jungs vor einer maroden Rennbahn und spielen versonnen Maut-Maut. In der anderen haben sich ein paar besonders kräftige Kids zusammengefunden und ziehen am Mindestlohn-Tau. 8,50 Euro für wen? Zwischen den Wettkämpfern steht eine stämmige Erzieherin mit verschränkten Armen und zusammengekniffenen Lippen. Eine dritte Gruppe spielt Vater-Mutter-Kind, aber manchmal wollen da auch Mädchen den Papa mimen, und es gibt sogar Homo-Pärchen. Bäh, kreischen die anderen da, ihr seid ja gar keine richtige Familie, und hauen mit dem Kochlöffel auf sie ein.
In einem ruhigen Winkel sitzen die ganz Braven vor ihren Legosteinen. Auf einem steht Kranken
ht Krankenhaus, auf anderen Arzneimittelrabatte, Arzthonorare oder Facharzttermine; wieder andere Kinder werkeln mit ein paar größeren Klötzen, „Mindestrente“ oder „Rente mit 63“ ist zu lesen. Aber irgendwie wollen die Bausteine nicht so richtig zusammenpassen: Es gibt kein Fundament, es fehlen tragende Pfeiler, und an ein Dach ist überhaupt nicht zu denken. Was, wenn es bald wieder regnet? Frustriert schieben die Kids die Klötzchen hin und her, aber ihnen fehlt ein bisschen das Temperament, um damit herumzuwerfen.Nein, ein solides soziales Mehrgenerationenhaus, eines, in dem sich alle Formen von Familie wohlfühlen können, in dem die Kranken und Alten nicht nur ein Abstellplätzchen finden und alle Kinder gedeihen können, sieht anders aus. Soweit in den groß-koalitionären Arbeitsgruppen gestritten wird wie bei den Familienbeauftragten, hat man den Verdacht, dass es für die einen um reine Symbolik geht und für die anderen um Profilpflege für den politischen Aufstieg. Die Ernsthaften dagegen buddeln in Detailfragen, weil sie Angst haben, das große Ganze anzugehen.Die Bürgerversicherung gilt als beerdigtAber was ist das eigentlich, das ganz „große Ganze“ in der Sozialpolitik? Welche Prinzipien muss man verfolgen, was ist gut und verteidigenswert, was müsste dringend geändert oder nachjustiert werden, wenn uns die ganze Chose nicht um die Ohren fliegen soll? Ein Prinzip, das nach Auffassung der meisten Bundesbürger unbedingt bewahrt werden sollte, ist der soziale Ausgleich: Wer mehr hat, kommt für die auf, denen es schlechter geht. Man mag Otto von Bismarck für einen reaktionären Knochen halten; aber bei der Einführung der paritätisch finanzierten Sozialversicherung hat er Weitsicht bewiesen. Wenn auch mit Einschränkungen.Eine Einschränkung besteht darin, dass sich einige wenige, denen es richtig gut geht, schon immer aus der Solidarität ausgeklinkt und privat versichert haben. Das duale System von gesetzlicher und privater Gesundheits- und Altersvorsorge ist anachronistisch und kontraproduktiv. Aber die Idee von einer Bürgerversicherung für alle, von der SPD im Wahlkampf noch mehr oder weniger offensiv vertreten, wurde nun endgültig beerdigt: „Am System der Zweiklassenmedizin“, gab Karl Lauterbach, der Verhandlungsführer der SPD, zu Protokoll, „wird sich überhaupt nichts ändern.“Anachronistische AltlastIn den letzten Verhandlungsrunden geht also nur noch um die Frage, ob die gesetzliche Krankenversicherung zur paritätischen Finanzierung zurückkehrt oder sich die Versicherten darauf einstellen müssen, die künftigen Kostensteigerungen per Zusatzbeitrag zu bezahlen. Das kann schneller der Fall sein, als uns lieb ist: Mit drei Milliarden Euro Defizit der gesetzlichen Krankenkassen rechnet das Gesundheitsministerium 2015, bis 2017 sogar mit zehn Milliarden. Dann werden viele um den Zusatzbeitrag nicht mehr herumkommen. „Wenn der Zusatzbeitrag, der vor allem mittlere Einkommen belastet, bleibt, können wir den Koalitionsvertrag unseren Mitgliedern nicht vorlegen“, kündigte Lauterbach an. Ob SPD-Chef Sigmar Gabriel das ähnlich sieht?Solidarität und Parität sind das eine. Doch selbst die positiven Anteile der bundesdeutschen Sozialpolitik schleppen eine anachronistische Altlast mit sich herum: das aus dem 19. ins 21. Jahrhundert tradierte Ernährermodell und die daraus abgeleiteten Ansprüche. Soweit es sich um Kinder handelt oder etwa das Mutterschaftsgeld, schießt der Staat Geld in den Gesundheitsfonds. Die mitversicherte Ehefrau und die auf Hinterbliebenenrente angewiesene Rentnerin sind allerdings einfach nicht mehr zeitgemäß, ganz abgesehen von der Demütigung, der viele ältere Frauen ausgesetzt sind, wenn sie auf Grundsicherung zurückgreifen müssen.Menschen, die Kinder und alte Menschen versorgen – also vorwiegend Frauen –, brauchen in einer modernen, individualisierten Gesellschaft eine eigenständige, auskömmliche Sozialabsicherung. Da genügt es nicht, Müttern, die vor 1992 ein Kind bekommen haben, 28 Euro/West und 25 Euro/Ost mehr in den Rentennapf zu werfen, indem ein zusätzliches Rentenversicherungsjahr angerechnet wird. Noch zynischer sind alle Pläne, eine Mindestrente, egal wie hoch sie ist, an eine Anwartschaft von 45 Versicherungsjahren zu knüpfen. Wo leben diese Politiker eigentlich, die dafür verantwortlich zeichnen, dass etwa die Bundesagentur für Arbeit mittlerweile überhaupt keine Beiträge mehr für Arbeitslose in die Rentenkasse zahlt? Die sozialversicherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse forciert haben und die Frauen mit lächerlichen Betreuungsabfindungen „selbstbestimmt“ zu Hause halten? 2010 erreichten Frauen durchschnittlich 26 Versicherungsjahre, die ihnen eine Rente von 515 Euro monatlich einbrachte. Eine Mindestrente bei 45 Versicherungsjahren muss ihnen wie ein schlechter Witz vorkommen.Politik für GutverdienendeDie Studien zur künftigen Altersarmut haben noch vor zwei Jahren Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) aufschrecken lassen. Seither wird verstärkt über Mindestlöhne und Mindestrente sogar in der Union debattiert. Doch die künftige Altersarmut rekrutiert sich aus den prekär oder Teilzeit-Beschäftigten von gestern und heute, die auch von einem flächendeckenden Mindestlohn, wenn er denn je kommt, im Alter kaum mehr profitieren.Dem „Sozialrisiko Kinder“ will die Union, man glaubt es kaum, mit einer Kindergelderhöhung und möglicherweise einem erhöhten Kinderfreibetrag beikommen, wobei auch das unter Finanzierungsvorbehalt steht. Von letzterem profitieren vor allem Gutverdiener. Und höheres Kindergeld ist für die ohnehin herausgeworfenes Geld. Denjenigen, die von Transferleistungen leben, wird es unter Umständen wieder angerechnet.Das sind häufig genug Alleinerziehende. Aber um diese ohnehin benachteiligte Gruppe, die auch dadurch entlastet werden könnte, indem sie endlich aus der ungünstigen Steuerklasse II herausgenommen würde, macht sich die Koalition wenig Gedanken. Familienpolitisch hat sie eindeutig die Mittelschicht im Blick: Frauenquote in den Aufsichtsräten und Elternzeit plus, das heißt Elterngeld und Teilzeitarbeit, was insbesondere Paaren mit höherer Qualifikation entgegenkommt. Das ist alles nicht falsch. Aber kein Konzept.Falsche Akzente gesetztBauklötzchen statt Ranklotzen, das gilt auch in Bezug auf die Pflege. Das Einzige, worauf sich Berlin mittlerweile verständigt hat, ist eine bezahlte zehntägige Auszeit für pflegende Angehörige. Eine große Pflegereform? Weit gefehlt. Lauterbach und Jens Spahn (CDU), streiten sich über über Sinn und Unsinn eines weiteren Vorsorgefonds für alle Beitragzahler und die Zukunft des Pflege-Bahr. Aber es gibt keinen großen Plan, wie der Pflegeberuf attraktiver gestaltet werden kann, um mehr junge Leute für den Beruf zu gewinnen, es geht auch nicht um die Umsetzung des neuen Pflegebegriffs. Vielleicht, weil der Bereich Pflege – schon immer auf dem politischen Verschiebebahnhof – mal wieder ins Familienministerium wandern soll.Der Armutsforscher Christoph Butterwegge hat kürzlich eine akribische Auflistung aller von der schwarz-gelben Koalition verantworteten Maßnahmen zur Aushöhlung des Sozialstaats vorgelegt. Dabei konnte sie auf den Bemühungen der Vorgängerregierungen aufbauen. Es sieht im Moment nicht danach aus, als wolle die Nachfolgekoalition umsteuern. Ihr Pakt unter dem Motto „Wachstum-Bildung-Zusammenhalt“ setzt schon mittels des ersten Begriffs einen falschen Akzent.Ein prioritär gesetztes Wirtschaftswachstum hat nicht nur schwerwiegende ökologische Konsequenzen. Die nachgeordneten Ziele Bildung und Zusammenhalt der Gesellschaft orientieren sich an dieser Prämisse. Emanzipation, Bildungs- und Lebenschancen, soziale Sicherheit: bitteschön. Aber nur solange sie dem Wachstum dienlich sind.
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