Können wir die Vergänglichkeit überwinden?

Tod Wir haben uns daran gewöhnt, die Natur zu beherrschen. Dass wir aber dem Sterben noch nicht entfliehen können, versetzt uns in ein Trauma
Ausgabe 52/2020

Das frühe 21. Jahrhundert wird mit zwei ikonografischen Eindrücken in den Gedächtnisspeicher der Nachgeborenen eingehen: Der eine betrifft den Augenblick, als zwei Flugzeuge wie Raketen in die Zwillingstürme des World Trade Centers schossen und innerhalb kurzer Zeit 2.753 Menschen den Tod brachten. Im anderen Fall sind es die Bilder von den Leichenzügen, die während der ersten Welle der Pandemie durch die Städte Oberitaliens rollten. Beide Ereignisse haben einen Begriff in den täglichen Diskurs eingespeist, der bis dahin eher in medizinisch-psychologischen Zusammenhängen zu Hause war, Vulnerabilität.

Unkalkulierbare Terrorakte und die Unberechenbarkeit eines Virus haben die grundsätzliche Verletzbarkeit des Menschen in Erinnerung gerufen und einen tiefen Einschnitt im Daseinsbewusstsein hinterlassen. Der Tod ist plötzlich kein vereinzelt auf der Unfallstraße beobachtbares und ansonsten in die Klinik abgedrängtes Ereignis mehr, sondern ein öffentliches Massenphänomen, auch wenn die Einzelschicksale hinter den Todeszahlstatistiken der Pandemie verschwinden. Nachdrücklich werden wir daran erinnert, dass unser Ende nicht in irgendeiner unbestimmten Zukunft liegt, was uns erlaubt, unbeschwert die Gegenwart zu gestalten, sondern es uns jeden Tag ereilen kann. Aus der unpersönlich-distanzierten Feststellung „man stirbt“ ist das bedrohliche „ich könnte bald sterben“ geworden.

Diese plötzliche Allgegenwärtigkeit des Todes durch Terrorakte oder Seuchen bringt ein fast barockes Lebensgefühl zurück, ein „memento mori“, das in der postmodernen Ära unbezwingbarer Gegenwärtigkeit und juveniler Agilität geradezu obszön wirken muss. Die Zeitgenossen des 17. Jahrhunderts reagierten auf die tägliche Bedrohung mit überbordendem Daseinsfuror und Verdrängung. „Da die Menschen unfähig sind, den Tod zu überwinden“, schrieb der Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal inmitten der Wirren des Dreißigjährigen Krieges und der französischen Fronde, „sind sie, um glücklich zu sein, übereingekommen, nicht daran zu denken.“ Mit der frühneuzeitlichen Wende gerieten die Glaubenssicherheiten ins Wanken und hoben die Kontingenz des Menschen, seine unausweichliche Endlichkeit als Inbegriff der „conditio humana“ ins Bewusstsein. Die Tatsache, irgendwann einmal sterben zu müssen und in den unendlichen Kreislauf der Natur aufgenommen zu werden, wurde kaum mehr gemildert durch den Trost eines jenseitigen Lebens.

Es ist das Paradox des aufgeklärten Wissens, diese Kränkung menschlicher Existenz zu verschärfen und ihr gleichzeitig abhelfen zu wollen. Von Kopernikus über Darwin, der dem Menschen die Schöpfungskrone vom Kopf schlug, und Freud, der ihn nicht einmal mehr als Herrscher im eigenen Haus duldete, bis hin zu den modernen Genetikern, die die menschliche Erbsubstanz auf das Niveau einer Fruchtfliege brachten, verwies die Wissenschaft die menschliche Hybris in ihre Schranken. Gleichzeitig unternahm sie, wie die Medizingeschichte beweist, jede nur denkbare Anstrengung, den kreatürlichen Verfall des Menschen und sein Verschwinden in der Natur aufzuhalten.

Der Gewissheit des Sterbens und dem Rätsel des Todes, das vom Leben her nicht zu begreifen war, begegneten die vormodernen Gesellschaften mit rituellem Abwehrzauber. Heutzutage ist der Tod technisch beherrschbar geworden durch die Intensivmedizin oder abstrakte Todeszeitbestimmungen wie den Hirntod, um das Verwertbare des Organischen weiter lebensfähig zu halten. Der Abwehrzauber kehrt wieder in der Anti-Aging-Industrie mit ihrem Bestreben, die menschliche Vergänglichkeit zu überlisten. Und im Silicon Valley arbeitet der Immortalists genannte radikale Teil der Biogerontologen an allen möglichen Methoden, dem Tod ganz grundsätzlich von der Schippe zu springen. Unterstützt werden sie von transhumanistisch gestimmten Futuristen wie Ray Kurzweil oder Peter Thiel, die die nötigen Mittel bereitstellen, um die einschlägigen Antialterungslabore auszustatten. Sich einfach nur einfrieren zu lassen, dürfte sich erledigen.

Aber auch in den gesellschaftlichen Debatten über den selbstbestimmten Umgang mit dem Lebensende spiegelt sich das Bedürfnis, sein Ende in die eigene Hand zu nehmen, indem man selbst Hand an sich legt oder andere damit beauftragt. Auch dies ist ein paradoxer Reflex auf die Fortschritte der Wissenschaft, in diesem Fall die intensivmedizinische Lebensverlängerung. Wir müssen ja nicht nur die Angst vor unserer generellen Limitierung und einem Sein zum Tode bewältigen, sondern auch die Furcht vor einer Wissenschaft, die sich schwertut mit dem „homo moriens“.

Der Umgang mit den Corona-Toten sei eine „ethische Kapitulation“, kritisierte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder kürzlich die Vernachlässigung der hohen Todeszahlen in der Lockdown-Debatte. Ein halbes Jahr nach den Leichenzügen scheint der Schock bereits nachgelassen zu haben. Doch die Erfahrung unserer grundsätzlichen Angreifbarkeit durch ein Virus dürfte nachwirken. Nicht alles was dem Menschen widerfährt, ist beherrschbar. Und der menschliche Möglichkeitsraum ist von Natur aus begrenzt.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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