Kompatibel

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Vier Jahre nach Arnold Gehlens Tod, 1980, erwähnte Helmut Schelsky in einem öffentlichen Brief, zwischen Gehlen und Theodor W. Adorno habe sich in den sechziger und siebziger Jahren ein geradezu familiär-freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Ein Nestor der westdeutschen Nachkriegssoziologie, René König, zitiert diesen Hinweis im vierten Band der Geschichte der Soziologie (1981) deutlich degoutiert und als Bestätigung der von ihm unterstellten "Duplizität der Radikalismen" in der Soziologie. Abgesehen von seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus - Gehlen beerbte als aufstrebender Jungakademiker nach 1933 mehrere von jüdischen Kollegen "gesäuberte" Lehrstühle - findet der gescholtene Philosoph in der umfangreichen Geschichte keinerlei weitere Erwähnung. Das ist trotz aller politischen Vorbehalte überraschend, denn Gehlen bekleidete nach dem Krieg immerhin einen soziologischen Lehrstuhl und popularisierte einige aus den soziologischen Theoriebeständen kaum mehr verzichtbare Begriffe wie Entlastung, Kristallisation, Automatismus, Hiatus oder Stereotypisierung, ganz abgesehen von seiner Institutionenlehre.

Arnold Gehlen, am 29. Januar vor genau 100 Jahren geboren, ist vermutlich einer jener Fälle, der die in den neunziger Jahren ausgiebig diskutierten ideologischen "Austauscheffekte" zwischen rechts und links zwar nicht mehr selbst inszenierte, aber als junger Akademiker doch stark von ihnen beeinflusst wurde. Am deutlichsten spiegelt sich dies an Gehlens Auffassung zur Technik, die in seinem Werk eine zentrale Rolle spielt und nicht nur Tribut an seinen Lehrer Max Scheler entrichtete, sondern in mancher Hinsicht auch die Vordenker des "heroischen Realismus" der konservativen Revolution belieh.

"Technik" figuriert bei Arnold Gehlen als die entscheidende Entlastungsinstanz des instinktarmen, unangepassten unspezialisierten, weltoffenen "Mängelwesens" Mensch. Gerade weil der Mensch ein "unabgeschlossenes Verhältnis zur Natur" habe, wohne ihm der Trieb inne, diese arbeitend zu bewältigen und sie sich mittels der Technik "dienstbar" zu machen, "sie auszunützen und gegeneinander auszuspielen". Auf seine Instinktarmut reagiert der Mensch adäquat durch "Selbstzucht, Erziehung und Züchtigung". Der "Zwang zur Kultur" ist dem Menschen sozusagen vorgängig, oder wie es Helmuth Plessner in einem unübertroffenen Paradoxon ausdrückte: "Der Mensch ist von Natur aus künstlich."

Zu einer wirklichen materialistischen Wende hat es der vorgebliche Anti-Idealist Gehlen, der ein heftiger Kritiker des philosophischen Leib-Seele-Dualismus war, nicht gebracht - obwohl gerade sein "Objektivismus" ihn eklektizistisch in naturwissenschaftlichen Fernen (vor allem in der Ethologie von Konrad Lorenz und bei Eibl-Eibesfeld) wildern ließ. Seine in den dreißiger Jahren ausgebildete philosophische Anthropologie (Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 1940) war sowohl NS-kompatibel wie sie sich später - mit kleineren Revisionen - auch an den Nachkriegs-Funktionalismus anschließen ließ. Der sich in "chronischem Alarmzustand" befindliche Mensch, der seine Umwelt sachdiagnostisch und ethisch kontrollieren müsse, sei auf Symbole und "kulturelle Immobilien" angewiesen, auf Institutionen und "Führersysteme", die ihm ein stabiles Außenverhalten sichern.

Dass hierin systemtheoretischen Modellen vorlaufende, konservativer Ordnungslogik entspringende Denkfiguren "kristallisiert" (um in Gehlens Begriffen zu bleiben) werden, muss nicht eigens ausgeführt werden. Die sozialpsychologische, kulturpessimistisch grundierte Bestandsaufnahme (Die Seele im technischen Zeitalter, 1957) allerdings, in der Gehlen die Disposition des Menschen im generell krisenanfälligen Kapitalismus beschreibt, ist bis heute luzide. Das "triebhafte Mitteilungsbedürfnis" in "ereignisverdünnten Räumen", die "Überwindung der abgestumpften Sinne durch den (medialen) Schock", die "Atmosphäre des Unernstes", die entlastenden "als-ob-Haltungen" - all dies markiert im exorbitant aufgetriebenen Medienzeitalter die Attitüden der "Schnittpunktexistenzen".

Mit den "Heroen der Technik" aus den zwanziger Jahren hatte Gehlen gemeinsam, dass er immer darauf bestand, dass "die Kultur nicht neben der Apparatur konserviert", sondern nur "in sie hineingerettet" werden kann. Denn auch hierin gab sich Gehlen keinen Illusionen hin. Dass nämlich die Technik als "Organersatz" des Menschen irgendwann das Organische überhaupt ersetzen und ununterscheidbar würde. Eben dies erleben wir gegenwärtig.


Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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