Sage keiner, das System sei nicht lernfähig. Zumindest auf kosmetische Operationen versteht es sich. Denn als der schon wieder Ex-Gesundheitsminister Philipp Rösler vergangenes Jahr beim Hauptstadtkongress Gesundheit – der einzigen Gelegenheit, bei der sich Politik, Gesundheitswirtschaft, Ärzteschaft und Pflege sozusagen auf gleicher Augenhöhe begegnen – erstmals auftrat, patzte er gleich gründlich, indem er die 1,2 Millionen Pflegekräfte in seiner Eröffnungsrede einfach vergaß. Aus bekanntem Anlass musste dieses Jahr Staatssekretärin Annette Widmann-Maunz (CDU) in die Bresche springen und fiel dabei ins umgekehrte Extrem, indem sie den Pflegekräften Honig ums Maul strich, sie „zum Dialog“ einlud, Versprechungen machte und all die vakanten Reformen des Guten ankündigte, auf die die Branche schon ewig wartet.
In der sich seit Jahren wiederholenden berufspolitischen Auseinandersetzung sahen es die Standesvertreter realistischer: Nicht weil die Politik endlich in die Gänge käme, die Ärzte ihr „Platzhirschverhalten“ aufgäben oder die Pflegenden ihre „Minderwertigkeitskomplexe“ überwänden, werde sich die Gesundheitslandschaft in den nächsten Jahren verändern, sondern weil die ökonomischen und demographischen Herausforderungen entsprechende Lösungen hervor trieben. „Wenn es uns nicht gelingt, die Branche attraktiver zu machen“, orakelte ein Klinikdirektor, „steuern wir sehr bald in ein unvorstellbares Chaos.“
Die Ökonomie treibt im Gesundheitssystem mittlerweile noch ganz andere Blüten hervor. Alle Jahre das gleiche Spiel: Wie viel Leistung können und wollen wir uns leisten? Was ist notwendig, was weniger wichtig und wer soll in den Genuss des raren Gutes kommen? Als Ärztepräsident Wolf-Dietrich Hoppe sich 2009 unter dem Stichwort „Priorisierung“ wieder einmal auf dieses verminte Feld begab, hob er mit der Behauptung an, die „heimliche Rationierung“ sei längst Alltag, aber für die betroffenen Patienten nicht durchschaubar und deshalb ungerecht. Das löste heftige Absetzbewegungen aus, denn nichts wirkt in der Politik so letal wie das Ansinnen, den Bürgern ein Stück Gesundheit vorenthalten zu wollen.
Prioritätenliste für Herzerkrankungen
Seither bemühen sich Fachvertreter um semantische Beruhigungstherapie: Rationierung, behaupteten sie auch diesmal wieder, habe mit Priorisierung gar nichts zu tun, keinem solle etwas, das er braucht, weggenommen werden, niemand, so das Versprechen, soll sterben müssen, nur weil die Mittel knapp sind. Wie beruhigend, und dem freundlichen Heiner Raspe von der Uni Lübeck, der seinem Auditorium Schweden als großes Vorbild offerierte, glaubt man die gute Absicht sogar. In den skandinavischen Ländern, auch Norwegen, das auf Öl-Kronen schwimmt, existieren Leitlinien, die Ansagen machen, in welchen Fällen medizinische Intervention unbedingt notwendig ist, wann mittelfristig angezeigt und wann möglich, aber nicht erzwingbar ist. Wer also eine Arthrose im Hüftgelenk hat, braucht nicht subito operiert werden, sondern kann auch noch eine Zeitlang warten. In Schweden existiert eine Prioritätenliste für Herzerkrankungen, die Entscheidungshilfen gibt, in welcher Reihenfolge Patienten versorgt werden sollen.
Bei der Prioritätensetzung geht es also nicht um Mitteleinsparung, sagen die Fachleute, sondern um ihre vernünftige Verteilung. Dabei könnte es dann allerdings passieren, dass sich die Patientengruppen durchsetzen, die besonders laut schreien und andere außen vor bleiben. Und die Lobbygruppen im Gesundheitssystem, die dafür sorgen, dass die einen überversorgt werden, andere aber unversorgt bleiben, werden sich von Prioritätenlisten kaum beeindrucken lassen; eine Pharmafirma etwa wird ihr Medikament auch dann auf den Markt schmeißen und dort halten wollen, wenn sein Nutzen fraglich ist, und die Betreiber von teuren medizinischen Geräten werden weiterhin versuchen, ihre Kapazitäten auszulasten.
Gar nicht davon zu sprechen, wer eigentlich darüber entscheiden soll, wer, wann und wie viel vom Gesundheitskuchen abbekommt. Ein neu zu schaffender Gesundheitsrat – auch so ein Longseller in der Diskussion – wäre demokratisch nicht legitimiert; der Gemeinsame Bundesausschuss, der heute schon entscheidet, was Kassen bezahlen und was nicht, ist gerade ins Schussfeld geraten und ohnehin nur für die Gesetzlich Versicherten zuständig. Von gewählten Bundestagsabgeordneten darf man kaum erwarten, dass sie demnächst Rangfolgen erstellen. Und wer, fragt der ehemalige Chef des Kölner Kosten-Nutzen-Bewertungsinstituts, Peter Sawicki, hat eigentlich so viele Patienteninformationen, dass er das Leid abwägen kann, das eine verschobene Operation oder eine vorenthaltene Arzneimitteltherapie für den Betroffenen bedeutet?
Priorisierung gehört zum medizinischen Alltag
„Vor dem Hintergrund knapper Ressourcen müssen Prioritäten gesetzt werden“, dekretierte Christoph Fuchs von der Bundesärztekammer, die als Pressure-Group auftritt. Er ließ jedoch offen, nach welchen Kriterien. Keine Frage: Jede Notfallstation versorgt tagtäglich nach Dringlichkeit, und auch ein niedergelassener Arzt wird den Nutzen einer Therapie abwägen. Priorisierung gehört also zum medizinischen Alltag. Ist vielleicht mehr gemeint und die Steuerung zielt eben doch auf Verknappung? Dann müssten neue Kriterien eingeführt werden, Alter etwa oder Eigenverantwortung.
Dass uns das öffentlich-rechtliche Fernsehen Diskussionsrunden mit dem Titel „Ist Selbstmord besser als Demenz“ (Hart aber fair) zumutet, könnte nicht deutlicher anzeigen, in welche Richtung diese Debatte laufen wird. Womit wir wieder beim oben angekündigten „Chaos“ wären. Wenn niemand mehr da ist, der die Kranken, Alten und Dementen pflegt, hilft auch keine Priorisierung. Der Hirnforscher Gerald Hüther verabreichte in seiner launig-mitreißenden Einführung deshalb die Aktivierung der Selbstheilungskräfte. Man würde sich wünschen, „das System“ würde bei sich selbst anfangen, statt kosmetische Chirurgie zu betreiben.
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