Kranker Kunde

Verantwortung Schwarz-Gelb paukt die Gesundheitsreform durch das Parlament. Sie wird die Gesellschaft stärker verändern, als viele es ahnen

Wer nächtelang bei Minusgraden Straßen blockiert und Gleise besetzt und sich dabei auch noch von Wasserwerfern durchnässen lässt, lebt gefährlich. Die Kosten des Polizeieinsatzes beim Castor-Transport sind bekannt, aber noch hat niemand hochgerechnet, mit wie vielen Erkältungstagen und Krankheitskosten der zivile Ungehorsam zu Buche schlägt.

Es sind mündige Bürger, die solche Risiken in Kauf nehmen. Zumindest rhetorisch handelt es sich um die gleichen mündigen Bürger, die aufgefordert sind, auf eine gesunde Lebensweise zu achten, riskantes Verhalten zu vermeiden und sich als informierte Konsumenten auf dem Gesundheitsmarkt zu bewegen. Seit seinem Amtsantritt wird Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) nicht müde, das Lied vom aufgeklärten Patienten zu singen, dessen Eigenverantwortlichkeit und Gesundheitsbewusstsein zu stärken sei.

Als Idealbild steht diese Figur auch im Zentrum der Finanzreform der Gesetzlichen Krankenversicherung, die im Windschatten des alle Widerstandskräfte bindenden Anti-Atom-Protests Ende dieser Woche durch den Bundestag gejagt werden soll. Im Unterschied zu den unabsehbaren Langzeitwirkungen von Atommüll werden die Folgen dieses bislang gravierendsten Umbaus eines Sozialversicherungszweiges schon relativ bald spürbar sein. Was am 1. Januar 2011 mit einer Beitragserhöhung anhebt, wird in den folgenden Jahren, wenn die Arbeitgeber für die Kostensteigerungen im Gesundheitswesen nicht mehr herangezogen werden, in eine Kostenspirale für die Versicherten münden. Gesundheitsökonomen schätzen, dass der Zusatzbeitrag, der künftig von den Kassen erhoben werden kann, in 15 Jahren so hoch sein wird, dass alle Kassenmitglieder Anspruch auf einen Sozialausgleich haben.

Nach dem Vorbild der Laufzeitverlängerung setzte das Gesundheitsministerium auf Überrumpelungstaktik. Kurz vor Toresschluss wurde der Gesundheitsausschuss mit einer langen Liste von Änderungsanträgen bombardiert, die das marktliberale Fluidum sowohl der Finanzreform als auch des gleichzeitig zur Verabschiedung stehenden Arzneimittelneuordnungsgesetzes noch einmal verstärken. Eine wesentliche Veränderung betrifft das bislang gültige Sachleistungsprinzip: Künftig soll der Patient sich dafür entscheiden können, mit dem Arzt direkt abzurechnen und das Geld später von der Kasse zurückzuholen.

Die Mittelschicht definiert

Die Koalition versichert, dass es sich dabei nur um eine Option handle und niemand zur Vorkasse gezwungen werde. Doch die Fachärzte, auf die sich diese Regelung vorab konzentrieren wird, sehen darin eine Möglichkeit, sich aus dem komplizierten Abrechnungsprozedere mit den Kassenärztlichen Vereinigungen zu schleichen und schnell an das möglicherweise sogar höhere Honorar zu kommen. Denn was an Leistung angeboten wird, ist Verhandlungsmasse zwischen Arzt und Patient, und ob das, was der Arzt abrechnet, von der Kasse auch erstattet wird, bleibt das Problem des Patienten. Abschläge für Verwaltungskosten sind ohnehin erlaubt.

Der mündige Bürger indessen darf sich als Privatpatient fühlen, auch wenn er nicht sicher sein kann, ob eine Behandlung medizinisch notwendig ist oder nur das Praxiskonto füllen soll. Klug kalkulierende Ärzte werden Vorkasse-Patienten bevorzugt behandeln und die „Chipsletten“, wie Kassenpatienten im Jargon heißen, unterscheiden in solche, die sofort zahlen – und den Rest. Der Arzt kann dem nun „Kunde“ genannten Patienten als beratender Dienstleister gegenübertreten und muss sich nicht mehr rechtfertigen, dass die Kasse dieses Medikament und jene Leistung nicht mehr bezahlt.

Die übrigen, die nicht in der Lage sind, sofort zu bezahlen oder die Behandlungskosten auszudealen, haben das Nachsehen. Es fehlt an Wissen, auch an Sprachkenntnissen. Der eine ist zu krank, der andere zu alt, um sich auf immer neue Verhandlungen einzulassen. Und wenn die Zusatzbeiträge steigen, werden Versicherte auch noch nach der günstigsten Kasse zu fahnden haben, weil der Sozialausgleich sich nur auf den durchschnittlichen Zusatzbeitrag bezieht.

Angepasstes Verhaltenskorsett

Mittelbar werden zahlungsunwillige und -unfähige Patienten, denen ohnehin unterstellt wird, sie lebten riskant, also bestraft. Was riskant ist, definiert die Mittelschicht, die sich „selbstbestimmt“ den Normen des auf ihre Bedürfnisse abgestimmten Gesundheitsmarktes unterwirft. Partnerschaftlich ist daran erst einmal gar nichts, im Gegenteil verengen sich die Schleusen für diejenigen, die gesundheitlich ohnehin benachteiligt sind.

Mit dem Begriff Selbstbestimmung war die Gesundheits- und kritische Verbraucherbewegung einmal gegen die medizinische Bevormundung angetreten. Es ist paradox, wie dies nun unter dem Vorzeichen der „Eigenverantwortung“ in ein individualistisch angepasstes Verhaltenskorsett umgemünzt wird. Als neue Ikone figuriert der souveräne Gesundheitskonsument, der sich als Quelle von Risiken wahrnimmt und managt. Dieser „Patient auf Augenhöhe“ indessen entlastet die Politik von der Zuständigkeit für die ungleichen Verhältnisse. Wer beim Castor-Transport seine Gesundheit aufs Spiel setzt, erinnert Herrn Rösler an diese Verantwortung und daran, dass auch gegen seine Reform selbstbestimmter Widerstand möglich ist.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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