Krise

Psychiatrie-Jahrestagung Durchlässigere therapeutische Ansätze

Psychologen und Psychiater sind derzeit begehrte "Experten", wenn es darum geht, etwas eigentlich ganz Unverständliches wie die sich häufenden Amokläufe von Schülern zu erklären. Dass die via TV abgesonderten Ferndiagnosen nicht unbedingt den hohen Standards gutachterlicher Praxis entsprechen, scheint keinen zu stören, so lange das Publikum mit einer halbwegs schlüssigen Erklärung beruhigt werden kann. Insofern war man dankbar, dass die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), die Ende November zu ihrer großen Jahrestagung in Berlin zusammenkam, sich relativ zurückhaltend äußerte. Es gebe zwar einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Computerspielen und Jugendgewalt, so der Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, aber ein Verbot habe wenig Wirkung, denn die Jugendlichen besorgten sich solche Spiele auch, wenn sie verboten würden.

Statt sich auf Spekulationen über Seelenlage und Motive jugendlicher Amokläufer einzulassen, präsentierte Schulte-Markwort Fakten. In den letzten Jahren sei zwar keine signifikante Zunahme jugendpsychiatrischer Störungen erkennbar, doch die Zahl der behandlungsbedürftigen Kinder und Jugendlichen bewege sich auf hohem Niveau. Schon im Grundschulalter seien bis zu zwei Prozent aller Kinder diagnostisch auffällig, im Jugendalter stiege der Anteil auf acht Prozent. Sozial auffälliges Verhalten ziehe dabei mehr Aufmerksamkeit auf sich als Depression, obwohl beide Störungen etwa gleich häufig auftreten. Depressionen bleiben auch deshalb häufiger unerkannt und unbehandelt, weil zu wenig Fachärzte zur Verfügung stehen. Während auf 18.000 Erwachsene Patienten noch ein Psychiater kommt, rutscht das Verhältnis bei Kindern und Jugendlichen auf 1:28.000 ab, bei anderen Fachärzten liegt die Quote, so Christa Roth-Sackenheim, Vorsitzende des Berufsverbands Deutscher Psychologen, bei 1:300.

Immerhin scheint auch in die festgefahrenen Schulen der Psychiatrie und Psychotherapie Bewegung gekommen zu sein. Psychoanalytische Bearbeitung, verhaltenstherapeutische "Reparatur" oder nur medikamentöse "Stillstellung" der Patienten und Patientinnen sind keine sich ausschließenden Therapieformen mehr. Insbesondere in den USA setzt man auf Ansätze, die Kognitions- und Verhaltenstherapie vermitteln und befähigen sollen, mit den Symptomen der Depression umzugehen. So hat James McCullough eine erfolgversprechende Alternative für chronisch Depressive entwickelt, die Fritz Hohagen, Präsident der DGPPN, auf dem Kongress vorstellte. Die auf 25 Stunden begrenzte Therapie ist darauf ausgerichtet, den Patienten aus dem "schwarzen Loch" zu holen, seine Situation "realistisch" zu sehen und ihn emotional zu stabilisieren. Sie wird ergänzt durch die Gabe von unterstützenden Medikamenten. Ziel der Therapie ist es, bestimmte Beziehungskonstellationen und Verhaltensschemata, die in eine depressive Krise führen, zu erkennen und zu vermeiden.

Psychische Störungen haben oft ihren Ausgangspunkt in sozialer Unsicherheit. Arbeitslosigkeit, so Karl Beine vom Vorstand der DGPPN, führe zu dreifacher Verelendung: nicht nur fehle es an finanziellen Mitteln, es verkümmerten auch die materiellen Fähigkeiten und die sozialen Kontakte. In den letzten Jahren, so Beine, steige auch die Rate der Zwangseinweisungen, nicht zuletzt, weil Angehörige von psychisch Kranken sich überfordert sehen. Deshalb bemüht sich die DGPPN neuerdings um den "Trialog" zwischen Experten, Patienten und Angehörigen, eine "aus historischen und institutionellen Gründen" durchaus nicht selbstverständliche und "schwierige Begegnung". Ruth Fricke vom Bundesverband der Psychiatrieerfahrenen fordert ebenfalls eine stärker an den Bedürfnissen der Patienten ausgerichtete Psychiatrie. Auch das Auskunftsrecht von Patienten und Angehörigen nach Zwangseinweisungen würde sie gern gestärkt sehen.

Auffällig ist, dass vor allem Zwangseinweisungen nach dem Betreuungsrecht zugenommen haben - um 18 Prozent. Es sind also oft ältere, geistesverwirrte Personen, die in der Psychiatrie landen. So wurde auch auf der DGPPN-Tagung das Menetekel der alternden Gesellschaft beschworen, denn das Problem, so die Auffassung Beines, sei auf Dauer nicht durch Professionelle zu lösen. Abgesehen davon, dass Zwangsbehandlung kein therapeutisches Instrument sei, gehe es darum, "quartierbezogene Formen" der Betreuung altersverwirrter Menschen zu entwickeln.


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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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