Kühl kalkuliert

Rentnerdemokratie Rüttgers, das moralische Minimum und die Rentnerdemokratie

Die gute Nachricht, zumindest für Roman Herzog und die Pflegekasse, kam gerade aus Rostock: Die dort ansässigen Demographen haben nämlich herausgefunden, dass die amtlichen Statistiken ungenau sind und in Deutschland viel weniger Hochbetagte leben als angenommen. Alles Quatsch, was uns Bevölkerungswissenschaftler und Rentenpolitiker erzählen? Der Methusalem - nur ein Medienprodukt? Die immer älter werdende Gesellschaft - ein Angstphantom juveniler Dampfmacher?

Weit gefehlt, leben wir doch schon jetzt in einer "Rentnerdemokratie", entschied der ehemalige Bundespräsident. Allenthalben mehr Alte, die - so der Horror amerikanischer Geostrategen - Rollstühle statt Kanonen fordern und Rentenerhöhungen, die die Jungen in den Ruin treiben. Außerordentliche 1,1 Prozent in diesem Jahr, nach mehreren Nullrunden: Ausplünderung, Diktatur, Bürgerkrieg zwischen Alt und Jung! Und eine Sozialstaatsquote, die angeblich ins Unermessliche steigt.

Glücklicherweise gibt es einen Arbeiterführer namens Jürgen Rüttgers, der sich noch einen Rest Gerechtigkeitsempfinden aus den Zeiten des Rheinischen Kapitalismus bewahrt hat. Der CDU-Politiker wollte schon nicht hinnehmen, dass einer, der lebenslang geschuftet hat, nach einem Jahr sozial abgefederter Arbeitslosigkeit in der Armenküche landet. Als er damit ankam, älteren Erwerbslosen länger ALG I zu gewähren, erhob sich geschlossen die Agenda-Front gegen ihn. Nun mimt er schon wieder den lonesome cowboy mit seinem Vorschlag, langjährige Beitragszahler mit einer Rente zu belohnen, die geringfügig über dem Niveau der Grundsicherung liegt. Denn, so die Begründung von Rüttgers, warum sollte jemand 35 Jahre lang arbeiten und in die Rentenkasse einzahlen, wenn er ohne Arbeit das gleiche Ziel erreicht?

Volkes Stimme. Leistung sollte sich lohnen. Deshalb gibt es in der Bundesrepublik eine Leistungsrente, und die - sagen die Rüttgers-Gegner - werde unterhöhlt, wenn einer, der wenig einzahlt, proportional mehr Rente erhält. Ein ordnungspolitisches Fiasko, stöhnen sie - und die Malocher feixen. Gerechter Lohn für ein gerechtes Tagwerk? Das war einmal, bevor der globale Kapitalismus immer mehr Menschen überflüssig machte und an die prekären Strände der Ein-Euro-Jobs und Kombi-Löhne warf, wo sie lernen mussten, dass Leistung und Lohn blind füreinander sind. Welch eigenartige ideologische Verblendung, mit dem Leistungsrecht zu winken, wo das Recht auf Leistung ebenso obsolet geworden ist wie eine leistungsgerechte Bezahlung.

Gerechtigkeit im Neoliberalismus bedeutet allenfalls, wenn überhaupt, gleiche Zugangschancen. Doch die kann die künftige Rentnergeneration ohnehin nicht mehr nutzen, auch wenn die Bundesbank noch so oft fordert, das Rentenalter auf 68,5 Jahre anzuheben. Ein großer Teil wird nach prekärer Beschäftigung oder Arbeitslosigkeit in die Altersarmut entlassen. In Ostdeutschland, wie der Sozialbericht der Volkssolidarität dieser Tage gerade wieder zeigte, wird dies besonders ausgeprägt geschehen. Dort beginnt die brachiale Deindustrialisierung der Nach-Wende-Zeit, auf die Renten durchzuschlagen; außerdem verfügen die ostdeutschen Rentner und Rentnerinnen viel seltener über zusätzliche betriebliche und private Absicherungen. Es gibt überdies Anzeichen dafür, dass die Armut künftig wieder ein altes und weibliches Gesicht haben wird.

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Rüttgers erkennt, anders als Herzog und die mit ihm verbündeten Generationenkrieger, nur, was ohnehin offensichtlich ist: Die Alten sind keine homogene Gruppe. Wahlkampftaktik einmal beiseite gelassen, operiert da ein kühl kalkulierender Politiker, der die sozialverträgliche Mindestrente gerade nicht an Mindestlöhne, deren entschiedener Gegner er ist, sondern an das Kombi-Lohn-Modell bindet. Ein auf Niedriglohnniveau nivellierter Arbeitsmarkt, auf dem der Staat, also die Allgemeinheit, das Zuschussgeschäft übernimmt - dann notwendigerweise auch bei der Rente. Noch bleibt der Beifall aus, aber er kommt, sicher.

Von einem skandalösen, leistungsvergessenen Umverteilungsgeschäft kann überhaupt keine Rede sein. Rüttgers Vorschlag umfasst gerade einmal - und nicht einmal für alle - das Mindestmaß dessen, was sich eine nicht völlig inhumane Gesellschaft leisten sollte: Die Versorgung mit einem Minimum an Gütern, das über das Überlebensnotwendige hinausgeht und eine würdige Existenz sichert. Wie dieses "moralische Minimum", das die Gerechtigkeitsphilosophin Martha Nussbaum einfordert, aussieht, und wer es bezahlen sollte, muss ausgehandelt werden. Womöglich sogar in einer Rentnerdemokratie.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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