1883 ist nicht 1956

Kapitalismus Eine Ausstellung in Berlin zeigt Karl Marx‘ Lebensumstände – und räumt mit Verklärungen und Vorurteilen auf
Ausgabe 06/2022

Der Widerspruch war schon angelegt in seiner Person. Waren die Altvorderen, darunter Rabbiner, noch auf dem Jüdischen Friedhof begraben, konvertierte der Vater im katholischen Trier zum Protestantismus, um seinen Beruf als Rechtsanwalt auszuüben. Karl allerdings ließ er erst 1824, als Sechsjährigen, taufen. Die Kritik an der Religion wurde für den Studenten in der von Hegel beeinflussten Berliner Universität so zum Ausgangspunkt seiner Kritik an den Verhältnissen. Denn die Gläubigen, die mit Votivgaben den göttlichen Segen erbitten oder Gott danken, sind ihr ebenso ausgeliefert wie die Menschen einer Ökonomie, die ihnen allmächtig entgegentritt und die doch ihr Geschöpf ist. Den menschgemachten Verhältnissen den Schleier der „Natürlichkeit“ wegzureißen und ihnen auf den Grund zu gehen, wurde zur lebenslangen Mission.

Das feite den jungen Marx allerdings nicht vor antijüdischen Diffamierungen – etwa in privaten Briefen gegen den „Nigger“ Ferdinand Lassalle – und nicht davor, das Kapital mit den Juden zu identifizieren oder als Redakteur der radikal republikanischen Neuen Rheinischen Zeitung Beiträge abzudrucken, deren antisemitischer Inhalt Abonnenten empört zur Kündigung veranlasste. Den „Dorn“ seiner Herkunft, den ihm der einstige Freund und Antisemit Bruno Bauer vor Augen hält, wird Marx später jedoch als förderlich ansehen für seine umfassende Kritik der politischen Ökonomie.

Zu besichtigen sind diese Dokumente – mit dem inzwischen wohl pflichtschuldigen Vermerk, das Wort „Nigger“ sei dem „originalgetreuen Umgang mit den Quellen“ geschuldet – in der Ausstellung Karl Marx und der Kapitalismus, die das Deutsche Historische Museum (DHM) zum Auftakt einer Doppelschau präsentiert und im April mit Richard Wagner und das deutsche Gefühl fortsetzt. Die inhaltliche Spur, die Museums-Chef Raphael Gross vier Jahre nach Marx’ pompös gefeiertem 200. Geburtstag damit legt, ist risikoreich. Sie zielt auf die frappierenden Parallelen, die die beiden, wenn auch konträren politischen Lagern zuzuordnenden Kultfiguren des 19. Jahrhunderts aufweisen, insbesondere in Bezug auf ihre radikale Kapitalismuskritik.

Dass sie in dem einen Fall „nur“ musikalisch ausgetragen wurde, im anderen zu einem global nachwirkenden Ismus werden konnte, verdankt sich auch persönlichen und historischen Zufällen, wie Branko Milanović in seinem Beitrag im Begleitkatalog anmerkt. Mit Friedrich Engels hatte Marx einen werktreuen und ergebenen Nachlassverwalter, der aus den überbordenden, kaum entzifferbaren Manuskripten die letzten beiden Bände des Kapital zusammenstellte. Der Erste Weltkrieg wiederum schuf die Voraussetzung für eine Revolution, die aus einer Theorie, die im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts mit anderen konkurriert hatte, eine weltgeschichtlich wirkende Tatsache machte, mit allen bekannten Folgen. Und vielleicht wäre Marx auch gar kein Revolutionär geworden, wäre er im brodelnden Paris der 1840er Jahre nicht so intensiv mit dem französischen Proletariat in Berührung gekommen.

Wenn die Ausstellungsmacher:innen gleich zu Beginn ein auf den Kopf gestelltes Hegel-Porträt zeigen, spielen sie also nicht nur auf den von Marx auf die (materialistischen) Füße gestellten Philosophen an, sondern schaffen gewissermaßen auch ein Sinnbild für die in den Kontext seiner Zeit zurückgeholte Figur: „Wir wollen zeigen“, sagt Kuratorin Sabine Kritter, „dass Marx in vielen Punkten unvollendet war, fragmentarisch und widersprüchlich. Er war in Debatten involviert und hat viele Gegenstimmen provoziert, was durch den zur Ikone aufgebauten Marx später verdeckt wurde.“ Dabei offenbare das in weite Ferne gerückte, „lange“ 19. Jahrhundert mit seinen industriellen Umbrüchen und Globalisierungsbestrebungen und den schmerzhaften Modernisierungserfahrungen viele Anknüpfungspunkte für die Gegenwart. „Es stellt Fragen, die im Übergang zur postindustriellen Gesellschaft wieder virulent werden.“

Eine derart historisierende und gleichzeitig aktualisierende Veranstaltung muss deshalb gar nicht erst den Versuch unternehmen, das Denkgebäude der marxistischen Theorie ins Bild zu setzen. Mit den genannten Votivgaben wird eingangs – nur unvollkommen – eingefangen, was Marx mit seiner Religionskritik beginnt und später auf den schillernden Begriff „Entfremdung“ bringt, den er der Politischen Romantik entlehnt und der im Katalogbeitrag von Rahel Jaeggi luzid erklärt wird.

Frühe Kolonialismuskritik

Den Mittelpunkt des nicht chronologisch, sondern nach Themen gegliederten großen Raumes bilden die „Verdinglichungen“ der Ersten Industriellen Revolution. Eine originale Dampf- und Nähmaschine und erste Industriewaren erinnern an den Übergang zur Massenproduktion, eine (nachgebaute) „Spinning Jenny“ markiert die Umwälzungen in der englischen Textilindustrie, die von massiver Landflucht begleitet waren.

Eine in den Boden eingelassene Karte der damaligen Welt zeigt die expandierenden neuen Verkehrs- und Informationswege, Zeichen der sich vollziehenden Globalisierung. Gemälde von Industriestädten vergegenwärtigen Luftverschmutzung und die damals schon beginnende Gentrifizierung. Wechselscheine kündigen das aufkommende unkontrollierte Kreditwesen an, Ausgangspunkt der Finanzkrisen des 19. Jahrhunderts, während die Arbeitervereine ihre Rücklagen noch in massiven Streiktruhen verwahren. Dass der Mensch „nicht Eigentümer“, sondern nur „Nutznießer“ der Erde sei und sie „der nächsten Generation verbessert zu hinterlassen“ habe, weist Marx, bei aller positivistischen Technik-Euphorie, auch als ökologischen Denker aus. Und er ist ein früher Kritiker der Kolonialismus, wenn er etwa vor der Verwandlung Afrikas „in ein Geheg’ zur Handelsjagd von Schwarzhälsen“ warnt.

Der grundlegende, Marx’ Diagnose der bürgerlichen Gesellschaft bestimmende Widerspruch zwischen fruchtbaren Produktionskräften und destruktiven Produktionsverhältnissen, der der „Emancipation“ des Menschen entgegensteht, zieht sich als roter Faden auch durch die zeitgenössischen Debatten. Das gilt für die Auseinandersetzung über die „Maschinenfrage“ im Generalrat der Ersten Internationale, dem Marx als aktiver „Influencer“ angehörte, ebenso wie für seine widersprüchliche Positionierung zur Frauenfrage. Zwar ordnete er die Frauenemanzipation der sozialen Frage unter, votierte gleichzeitig aber für die Teilhabe „der Weiber“ an den gewerkschaftlichen Assoziationen. Die „blinden Flecken“ in der Marx’schen Wert- und Arbeitstheorie werden ein Jahrhundert nach ihm Feministinnen erhellen.

Widersprüchlich und von theoretischen Revisionen begleitet waren aber auch seine politischen Interventionen. Wo es um das Verhältnis von Reform und Revolution ging, etwa in den konkreten Kämpfen der Arbeiter, stellte er sich – wie bei der Durchsetzung des Achtstundentags – häufig auf die Seite des Machbaren. Ähnlich auch seine Bündnispolitik in der Kölner Demokratischen Gesellschaft während der Revolution von 1848/49, als er für ein Bündnis mit den Bürgern eintrat und dafür viel Kritik von den Linken erntete. Kompromisslos dagegen war Marx in seiner Parteinahme für die Kommunarden in Paris, deren Gewalterfahrungen mit dem Staat ihn sogar die Befunde im Kommunistischen Manifest als „überholt“ erscheinen ließen, wie ein nachgetragenes Vorwort belegt.

Flüchtling war er zeitlebens

Wenn also 43 Prozent der Deutschen davon überzeugt sind, dass Marx’ Kapitalismuskritik zur Erklärung der heutigen Verhältnisse noch beiträgt, so eine eingangs vorgestellte repräsentative Umfrage des DHM, ist dies ein Zeichen für die Anerkennung, aber auch die Dynamik und Modernität seines Werkes. Modern war Marx aber auch in persönlicher Hinsicht, denn der fast zeitlebens im Exil zwischen Paris, Brüssel und London vagabundierende Vater dreier Töchter, der seine preußische Staatsangehörigkeit aufgeben musste, gehört zu der großen Flüchtlingsbewegung, die die globalisierte Welt hervorgebracht hat. Die größte Last trug Ehefrau Jenny, der die materielle „Ballastlosigkeit“ hart zusetzte. Sie drückt sich aus in den wenigen Exponaten aus Familienbesitz: ein Engels überlassenes Zigarrenetui, ein Handschuhbehältnis seiner Frau Jenny, einige von Tochter Jenny bemalte Kaffeeteller. Selbst Fotos von Marx und seiner Familie sind rar, die bekannten meist ikonisch überhöht. Bei Marx’ Beerdigung 1883 waren gerade einmal elf Personen anwesend. Die beiden Grabmale, das monumentale ist erst 1956 entstanden, könnten sprechender nicht sein für die Bedeutung in seiner Zeit, die diese Ausstellung fokussiert, und seine spätere Wirkung.

Info

Karl Marx und der Kapitalismus Deutsches Historisches Museum, Berlin, bis 21. August

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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