Wer sich im Besitz der Wahrheit wähnt, operiert mit dem Misstrauen. Es brachte einst Delinquenten in die Verliese der Inquisition und es festigte die Schafotte totalitärer Regime. Die „Hermeneutik des Verdachts“ setzte vor 40 Jahren eine ganze Generation auf die nicht ganz so blutige Spur ideologiekritischer Wahrheitssuche. Das weiß auch Wolfgang Kraushaar, der sich in seinem gerade veröffentlichten Buch Verena Becker und der Verfassungsschutz (Hamburger Edition) schon einleitend vom Verdacht abgrenzt, er wolle mit seiner Spurensuche „Verschwörungstheorien“ nähren. Doch was der Hamburger Politikwissenschaftler da zusammengetragen hat, wirft lange Schatten des Verdachts, die nicht nur auf einige Schlüsselinstitutionen des Staates fallen, sondern auch auf die „Glaubwürdigkeit des bundesdeutschen Rechtsstaats“.
Während Michael Buback, der Sohn des 1977 von einem RAF-Kommando ermordeten Generalbundesanwalts, derzeit in Stuttgart-Stammheim bizarre Kämpfe um die Wahrheit mit Bundesanwalt Walter Hemberger ausficht, zielt Kraushaar weit über Verena Beckers mögliche Täterschaft hinaus. Angenommen, fragt er, diese hätte tatsächlich die tödlichen Schüsse auf Buback und seine beiden Begleiter abgegeben: Warum ist die Hauptverdächtige dann jahrzehntelang gedeckt worden, von wem und mit welchem Interesse? Kraushaar listet Indiz um Indiz auf, jedes für sich zwar bekannt, in der Zusammenschau jedoch beeindruckend.
Die Tatsache, dass Becker 1977 bei ihrer Verhaftung in Singen im Besitz der Tatwaffe war und Augenzeugen eine weibliche Person auf dem Sozius des Tatmotorrads erkannt haben wollen, scheint ihm mindestens so verdächtig wie der nachlässige Umgang mit den Spuren und der Tatsache, dass Becker für den Buback-Komplex nie angeklagt wurde. Erfuhr sie Schonung, weil sie nicht erst, wie bekannt, zwischen 1981 bis 1983, also während ihrer zweiten Haftzeit in Köln, mit dem Verfassungsschutz zusammenarbeitete, sondern bereits in den siebziger Jahren? Verschwand deshalb ein Teil der bis vor einem Jahr noch hermetisch unter Verschluss gehaltenen Verfassungsschutzakte?
Wie ein Krimi liest sich Kraushaars Fahndung vor allem durch die Parallele zum Fall Ulrich Schmücker, der wie Becker in den frühen Siebzigern ebenfalls in der Bewegung 2. Juni operierte und wegen „Verrats“ hingerichtet wurde. Ob mit Billigung oder sogar Beteiligung des Berliner Verfassungsschutzes, wurde nie zweifelsfrei geklärt. Es habe sich aber, so die Richterin, die das letzte Verfahren schließlich einstellte, um einen „Extremfall rechtsstaatswidrigen Verhaltens staatlicher Behörden“ gehandelt. Sollte sich im Fall Becker ähnliches abgespielt haben?
Hätten staatliche Organe allerdings zugesehen, wie einer ihrer höchsten Repräsentanten ermordet wurde und die Täterin vor Strafe geschützt, würde aus dem „Extremfall“ eine den Staatsapparat erschütternde Affäre. Und wie damals könnte die „verschwörungsverliebte“ Linke argwöhnen, dass der Staat den Terror auch als politische Handhabe gegen sie missbraucht haben könnte.
Dies aber gehört ebenso in die Kultur des Verdachts wie eine Untersuchung, die erklärtermaßen „keinen Beleg für die Informantentätigkeit Verena Beckers für den Verfassungsschutz“ hat.
Dass die Wahrheit darüber, wer Siegfried Buback erschoss, eng verknüpft ist damit, wer Verena Becker schützte, scheint evident. Das aufgeklärte Bewusstsein lebt indessen besser in einer Welt ohne Inquisition, die die Wahrheit herausfoltern könnte.
In der Sache Verena Becker wird am Oberlandesgericht Stuttgart voraussichtlich noch an folgdenen Tagen prozessiert:
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