"Mit uns kostet es Geld - ohne uns das Leben!" Mit dieser drastischen Drohung traten vergangene Woche die deutschen Krankenhausärzte in den Ausstand, weil sie die von den Ländern diktierte Erhöhung der Wochenarbeitszeit von 38,5 auf 42 Stunden nicht länger hinnehmen wollen. Up up and away, ab ins Ausland, schaut, wo ihr bleibt, ist die durchaus nachvollziehbare Antwort derer, die, noch jung und gut qualifiziert, anderswo bessere Möglichkeiten sehen. Globalisierung als Chance.
Die 20 Millionen Rentner, die in derselben Woche zur Kenntnis nehmen mussten, dass die Rentenkassen zum Jahresende praktisch zahlungsunfähig sind, wenn nicht der Bund seine Zuschüsse früher als geplant überweist, haben diese Möglichkeit nicht. Sie sind auf Gedeih und Verderb dem hiesigen System und den Politikern ausgeliefert, die unter anderem dafür verantwortlich sind, dass die Kassen nicht mehr wie früher auf die sogenannte Schwankungsreserve zurückgreifen können, um unvorhergesehene Einnahmeausfälle auszugleichen. Die nämlich wurde von einer satten Monatsausgabe auf 20 Prozent gesenkt und liegt derzeit sogar nur bei elf Prozent.
Verunsicherte Rentner aber können wahlentscheidend sein: Das wusste Norbert Blüm, als er ihnen 1986 vollmundig die Sicherheit der Rente versprach; und der wiederum hatte diese Lehre von Konrad Adenauer übernommen, der im September 1957 zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte der Bundesrepublik der Union zum absoluten Wahlsieg verhalf - quasi das Geschenk der Wähler für die Große Rentenreform, die das bis heute gültige Umlageprinzip installierte, die Rentenhöhe an die Wirtschaftsentwicklung ankoppelte und die Rentner aus der Altersarmut holte.
Am Thema Rente, das wissen Politiker, kann man sich, wenn es nichts zu verteilen gibt, nur die Finger verbrennen. Die Alternativlosigkeit dieser Lebenslage fordert die politische Lebenslüge geradezu heraus. Denn natürlich kann kein Mensch heute ernsthaft eine "sichere Rente" versprechen; "sicher" ist dagegen, dass alle Maßnahmen - die Rente betreffend - der Quadratur eines Teufelskreises gleichkommen. So lange jedenfalls, wie nur an Rentenhöhen, Beitragssätzen, Renteneintrittsalter und ähnlichem gewerkelt wird.
Mit einem "Notopfer" der Rentner - also einer realen Rentenkürzung - will wenige Wochen vor den Wahlen keine Partei hausieren gehen. Dass die bereits beschlossenen Konsolidierungsgesetze das Niveau der künftigen Renten auf nur rund 40 Prozent der Bruttoeinkommen drücken werden, macht sich ohnehin kaum jemand klar; und die Grundrente auf Sozialhilfeniveau propagiert offensiv nur, wer - wie die FDP - dem Sozialstaat rücksichtslos und möglichst schnell den Todesstoß versetzen und die Alten den Kapitalmärkten ausliefern will.
In Bedrängnis kommen die Rentenkassen auch, weil die Einkommen der Erwerbstätigen real sinken, was Bert Rürup, zusammen mit Sozialministerin Schmidt, man höre und staune, höhere Löhne fordern lässt. "Total kontraproduktiv", schallt es daraufhin prompt aus der bayrischen Staatskanzlei. Bliebe also, die Leute länger arbeiten zu lassen. Doch wenn schon die 55-Jährigen keinen Stich mehr auf dem Arbeitsmarkt machen, wie sollen sich dann über 65-Jährige dort verdingen? Ganz abgesehen davon, dass sie den arbeitslosen Jungen die Jobs blockieren und das Problem nur in die Zukunft verlagert wird.
Da es sich bei der Alterversorgung nicht - wie etwa beim Kindergeld - um ein staatliches "Geschenk" handelt, sondern um einen einklagbaren Anspruch (wie übrigens auch die Pensionsansprüche, die als "tickende Zeitbombe" die öffentlichen Haushalte bedrohen), lässt sich auch nicht so ohne weiteres daran drehen. Der Coup, die Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe zusammenzulegen, bestand unter anderem darin, das ALG II vom ursprünglichen Arbeitseinkommen abzukoppeln, den daraus entstandenen Rechtsanspruch zu tilgen und die neue Transferleistung an die Arbeitsverpflichtung der Erwerbslosen zu binden. Auf die Rente übertragen, müsste die aktuelle Leistungsrente von einer allgemeinen Grundrente abgelöst werden - was sich mit dem auf dem Leistungsprinzip beruhenden System vorläufig nicht verträgt.
Also muss der Anspruch der Alten diskreditiert werden mit der Behauptung, sie fräßen den Jungen die Haare vom Kopf; und man hat gelegentlich den Eindruck, dass das öffentliche Schaulaufen der Generationenrechtler und Nachhaltigkeitsfanatiker eben diesem Zwecke dient und dabei unterschlägt, dass die "Gerechtigkeitslage" quer zur "Generationenlage" liegt. Anders formuliert: Die hier als "Generation" aufspielende Truppe verfolgt partielle Interessen, die aus einer privilegierten Lage resultieren. Warum auch sollte sich ein gut verdienender Jungakademiker mit profundem Erbanspruch in einer privaten Versicherung nicht besser aufgehoben fühlen als in einer Bürgerversicherung, die möglicherweise sein gesamtes Vermögen in die solidarische Verantwortung nimmt?
Nicht der Konflikt zwischen, sondern die Einkommensspreizung innerhalb der Generationen nagt am Sozialstaat und gibt ihn zum Abschuss frei. Die am Horizont aufscheinende "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" der fünfziger Jahre, die die Große Rentenreform auf den Weg brachte, ist Geschichte, seitdem sie das allgemeine Erwerbsarbeitsversprechen nicht mehr einlösen kann. Erinnert wird sie überraschenderweise vorab von denen, die sich unter sozialistischem Vorzeichen in ihr eingerichtet hatten, von den Bürgerinnen und Bürgern im Osten. Sie bekommen am meisten zu spüren, was es heißt, wenn der verfassungsrechtlich verbürgte, vorbehaltlose Anspruch auf soziale Wohlfahrt nicht mehr anerkannt wird, und sie reagieren auf ihre Weise mit einer Richtungsentscheidung. Auf der anderen Seite arbeitet die Große Koalition der "Umbauer" daran, diese Ansprüche "kalt", auf dem Weg von Gesetzen und Verordnungen, zu erledigen. Tendenziell führt das in eine Ausnahmesituation, die für das Ende der Weimarer Republik kennzeichnend war. An ihr wäre, neben anderen, bestürzenden Parallelen zur heutigen Politik, der Zusammenhang von Sozialpolitik und Demokratie zu studieren. Der Sozialstaat, könnte es in Abwandlung der ärztlichen Warnung heißen, kostet Geld. Kein Sozialstaat kostet die Demokratie.
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