Raufaser. Abwaschbare Fondtapete. Kork. Quetschdruck. Grastapete. Tapetenschichtungen als Bewusstseins- und Mentalitätenregister, das ist in der deutschen Literatur bislang wohl einzig. In Marion Poschmanns für die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominiertem Roman Die Sonnenposition fungiert die Tapete als Erinnerungslandschaft: In den „schön ausgekleideten Kisten“ hat das Kind Altfried gelernt, seine „Ressourcen optimal zu nutzen“ und die „Körperschleppe“ anzusetzen, die es nach außen hin zu einem sonnigen Gemüt macht.
Von dieser „Sonnenwarte“ aus, von der Position „generellen Überblicks“, tritt Janich, nicht mehr so vorlaut wie das Kind, so doch noch dicklich und ein Eigenbrötler, seine
ler, seinen Patienten gegenüber, um „zu operieren, was der Alltag sonst wie eine Wolkendecke gnädig verdeckt“. Er lebt in einem als psychiatrische Anstalt umfunktionierten Barockschloss in Brandenburg, zwischen allgegenwärtigem Pilzgeruch und bröckelndem Stuck, und beobachtet den Sonnenlauf über dem heruntergekommenen Anwesen und auf den Gesichtern der hier aufgelaufenen Wendeopfer, auf denen sich die Vergangenheit eingekerbt hat.Die Beerdigung seines Jugendfreundes Odilo, der auf mysteriöse Weise bei einer Autofahrt zu Tode gekommen ist, wird für Altfried zum Auslöser einer somnambulen Wanderungsbewegung, in der sich Traumstücke, Erinnerungsfetzen und Klinikalltag vermischen: „Etwas in meinem Inneren begann Tapeten abzureißen, als sei ich ein leerer Raum, mit den modischen Mustern vergangener Jahre beklebt.“Mit Odilo verband der Ich-Erzähler lebenslang eine symbiotische und dennoch völlig unverbindliche Beziehung, die durch das Dazwischentreten von Altfrieds geliebter Schwester Mila nachträglich in das Gravitationsfeld von Misstrauen und Eifersucht gerät. Odilo, ein Muttersöhnchen und ewiger Junggeselle, „konservativ verklemmt“ und „ein Karrierist“, befasst sich seit seiner Jugend mit Biolumineszenz, also mit Tieren, die sich zum Leuchten bringen können, um anzuziehen, zu täuschen oder Widersacher abzuwehren. Odilo ist ein menschlicher Lumineszenter, doch sein Licht, in dem die unglückliche Mila gleißt, ist kalt. Odilo interessiert sich nicht für Menschen oder Landschaften, sondern nur „für die inneren Postkarten des Wissens“.Automodelle frei nach GoetheMit Altfried teilt der Biologe indessen ein seltsames Hobby: die Erlkönigjagd. So werden in Anklang an die von Goethe popularisierte Mythologie Automodelle in der Entwicklungsreife genannt, die dann nachts auf geheim gehaltenen Strecken – in der Eifel oder im Lausitzer Tagebau – getestet werden. Nur ein einziges Mal ist es ihm bei dieser „Suche nach der verborgenen Schönheit“ gelungen, so ein Auto aufzuspüren und das Foto an eine Zeitung zu verkaufen; denn nicht die Fahrzeuge interessieren ihn, sondern „das Verdeckte, Unsichtbare, Getarnte“ inspiriert seine Phantasie. Ebendiesem von der Sonne nicht Erhellten gilt das Interesse der 1969 in Essen geborenen Marion Poschmann, die 2011 die Gedichtsammlung Geistersehen veröffentlichte.Die Wendeopfer mit ihren „Flüssigstrümpfen“ oder vom „Demiurgenwahn“ Besessenen gehören im neuen Roman ebenso zu diesen Schattenbewohnern wie das verkommene Schloss, in dem sie wohnen und das an den „Sonnenstein“, die ehemalige sächsische Tötungsanstalt, gemahnt, die Altfrieds Vater und Tante Sidonia nach dem Krieg als Durchgangslager durchliefen.In der Schattenzone bewegten sich aber auch der sonnig auftretende Psychiater mit seinem Faible für Abweichendes und Leerstellen, der sich „in den Schattenvorräten der Speisekammer“ bedient und „preußische Wolkenfetzen von widerlicher Unentschlossenheit“ beobachtet, ebenso der schlafwandelnde genialisch-unverstandene Odilo und Mila, die in einem baltischen Badeort der Jahrhundertwende besser aufgehoben wäre als in der Gegenwart. Ihr Herkommen als einer romantischen Universalpoesie verpflichteten Lyrikerin hat Poschmann auch dieser dritten Prosaarbeit unverkennbar eingeschrieben: Die nur locker und assoziativ verwobenen, „kugelförmigen“ Erzählstränge sind unterbrochen von Reflexionen über Ort und Zeit, Theorien des Schönen, aber vor allem von einer unverwechselbaren und sprachmächtigen lyrischen Prosa, die, wie die Orte die Generationen, das Textgewebe „durchsickert“: „Engelhaft gleißende Schwingen, blendendes Weiß. Trudelnder Flaum und vollkommener Kreis. Flügel und Schwert. Die Sonne durchstieß die folgenden Schichten: Sphäre der himmlischen Gerechtigkeit, Sphäre der Weisheit und Anbetung, Sphäre der gefiederten Chöre, die aus 24 Buchstaben eine Welt erschaffen.“Dass Marion Poschmanns Roman dabei nicht „abhebt“, wie diese Passage über den Aufschwung eines Schwans vermuten lässt, ist seiner Erdung im Alltäglichen zu verdanken und dem hintergründigen Witz. Poschmanns urkomische Skizze von der nun gesamtdeutschen FKK-Kultur, die Beschreibung der Reise der Geschwister in das schlesische Heimatdorf der Eltern oder auch nur das in einem einzigen Satz konturierte Bonn, entlasten von den Anstrengungen überbordender Bilder oder theoretischer Grundierungen.Virtuos jedenfalls handhabt Poschmann die Lichtmetapher, die ihren Roman zusammenhält und ihn in immer neue Zustände versetzt, so wie das irisierende Licht auf Leuchtquallen trifft oder einen Erzengel in Luzifer verwandelt, „Schönheit des abgefallenen Lichts“. Dass wir von allem immer nur die Hälfte sehen, ist Last und Glück zugleich und nur die erinnernd hergestellte Zeit bleibt unser Trost.
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