Liebe Grüße und Küsse

Berliner Abende Kurz vor Weihnachten erreichte mich eine Mail eines gewissen R., der mir herzlich gute Wünsche sandte und mich aufforderte, mal wieder ein ...

Kurz vor Weihnachten erreichte mich eine Mail eines gewissen R., der mir herzlich gute Wünsche sandte und mich aufforderte, mal wieder ein Lebenszeichen von mir zu geben. Das brachte mich in arge Verlegenheit, weil sich zwar eine Reihe R´s in meiner Agenda fanden, aber keinen mit diesem (glücklicherweise zugefügten) Nachnamen. Auch verstreute, unter wackelnden Tischbeinen oder als Buchzeichen noch auffindbare Visitenkarten halfen mir nicht weiter. Besonders peinlich empfand ich das, weil dieser R. einen recht vertrauten Ton anschlug und sich damit abhob von den vielen kosmischen Zeichen, die mich zur Jahreswende mit der Formel "liebe freundinnen und freunde" ansprachen und mich (und die zahlreichen Blind-Copy-Adressaten) darüber aufklärten, dass man a) noch lebe, b) dabei glücklich bzw. unglücklich sei und c) dies mit der Hoffnung verbände, dass a) und b (1) auch für mich zuträfe. Wenn also das Handy, wie ich gerade las, die technologische Lösung für permanente Zuspätkommer ist (sorry, ich bin schon unterwegs, ja, in der U-Bahn sowieso, also in spätestens 20 Minuten ...), so die weltbeglückende Erfindung des Internet (und seiner virtuellen Postadressen) die Entlassung aller Schreibmuffel aus der vorweihnachtlichen Sonntagnachmittagsplage, kitschige Karten formelhaft zu bestücken und (zur Freude aller heutigen Postaktienbesitzer) teuer zu belecken. Auch keine politisch korrekte (je nach Jahrzehnt mit "sozialistischem Gruß", "Venceremos!" oder "feministischer Umarmung" versehene) "Jahresendkarte" mehr. Eine Sammelmail tut´s auch. Und sollte es doch noch einen geben, der sich auf das antiquierte Nachrichtensystem versteift, lässt sich der Gegengruß, mit schlechtem Gewissen zwar, aber unauffällig schnell beantworten. Für die kleine, verräterische Verzögerung ist dann der Server verantwortlich. Andererseits, stellte ich in diesen Wochen wieder einmal fest, sind "Rüberkommkarten" mittlerweile die letzte Möglichkeit, sich an entwöhnte Handschriften als letzte leibliche Zeichen der Versprengten zu erinnern. Es gibt nämlich - zumindest für jemanden wie mich, die es so weit weg von allen früheren Wirkungsstätten verschlagen hat und deren freundschaftlichen Fäden zwischen Bombay und Vancouver, Chicago und Nashville, Athen, Venedig und Paris und natürlich quer durch die Republik gespannt sind - doch immer auch den einen und die andere, die sich sozusagen leibhaftig ins Haus schicken. So berichtet mir ein alter Freund aus dem Westfälischen jedes Jahr termingerecht, dass er noch immer nach seinen Traumjob Ausschau halte und sich heftiges Daumendrücken wünscht; eine wieder gefundene Sandkastenfreundin hofft - wie oft schon? -, dass wir uns nach 40 Jahren endlich mal wiedersehen mögen; aus der Schweiz teilt frau mir mit, dass der Liebeskummer langsam sediert sei; in Frankreich und Italien wird heftigst gearbeitet, und in Vancouver hat ein strenger Winter die Pforten der Unis geschlossen und eine willkommene Auszeit beschert. Gar nicht zu reden von den künstlerischen Ideen: Ein vereinter Sprung ins neue Jahr oder eine virtuelle Sektflasche. Ach, das freut mich doch sehr! Während ich also über den guten Wünschen und Vorsätzen meiner Freunde sinniere, mich frage, wie S. ihr anstrengendes Familienleben schafft und L. sein Alkoholproblem auf die Reihe kriegt, klingelt das Telefon. Ach, hallo, Ulrike, wie schön, dass du da bist. Das finde ich auch, und es folgt aufgeräumtes Geplauder: Dass man umgezogen und gut ins neue Jahr gekommen sei (ich), dass man letztes Jahr geheiratet habe und nun stolz den Kinderwagen schiebe (er) und dass man hoffe, das nächste Jahr möge unfähigen Politikern, die keine Ahnung von Familie haben, kräftig einheizen (wir). Dann eine kleine Sendepause. Noch immer kein Coming Out von der anderen Seite. Diesmal mag ich mir keine Blöße geben, auch wenn mir die Stimme nicht sonderlich bekannt vorkommt. Ex-Männer scheiden aus, an die erinnere ich mich halbwegs. Heirat, Kind? Ich gehe im Kopf das Register durch und beziehe auch die ein, die das früher weit von sich gewiesen hätten. Ich kann doch nicht jetzt, nachdem wir so weit gekommen sind, fragen, he, sag mal, wer bist du eigentlich? Also, beschließe ich, in die Offensive zu gehen und sage prononciert: Also, lieber R., es war wirklich nett, dass du angerufen hast, ich hoffe, wir hören bald mehr voneinander ... Am anderen Ende unterbricht mich ein unartikulierter Laut. Dann: Ob ich ihn verscheißern wolle? Er sei doch der Jochen Sowieso. Lieber Jochen, ich weiß, das wird dein letzter Anruf gewesen sein. Aber vielleicht nimmst du mich in deine Sammelmail auf: Sie schützen vor solch peinlichen Situationen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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