Ihr müsst nicht jedes Mal das Rad neu erfinden

An die jüngere Generation Es ist gar nicht so, als würden wir die Jungen nicht verstehen, denn wir haben früher schon für das Gleiche gekämpft. Nutzt unser Wissen, anstatt es nur infrage zu stellen – Brief einer Älteren an eine Jüngere
Ausgabe 51/2021

Was ich dir noch sagen wollte, liebe junge Freundin,

wann fing das an? Das Gefühl, alles schon einmal gehört und x-mal diskutiert zu haben, Themen, insbesondere die Geschlechter betreffende, in- und auswendig zu kennen und mich mit entsprechend mehr oder weniger gereizten Einwürfen unbeliebt zu machen. Wann begann mir das Klischee auf die Nerven zu gehen, das nach Jahrzehnten Neuer Frauenbewegung übrig geblieben war, das Bild der männerfeindlichen Emanze, ohne Sinn für Äußeres, aber so hysterisch, wie Frauen eben sind? Ab wann gehörte ich zur Gruppe jener „älteren Feministinnen“, die nach der Jahrtausendwende von den sogenannten „Alpha-Mädchen“ bemitleidet wurden wie eine aussterbende Spezies, von der man sich tunlichst absetzen sollte.

Dabei war ich lange immer die Jüngste, bin ich mit meiner Generation immer und überall zu spät gekommen. Zu spät für das wahre Leben im falschen der 68er, deren Anhängsel wir höchstens waren, zu spät auch für den Aufbruch der rund zehn Jahre älteren Schwestern. Wir haben keine BHs verbrannt und keine Tomaten geworfen, sondern drängten uns in den überfüllten Klassen der 1960er und 1970er Jahre, blieben als Kinderhorde auf den westdeutschen Straßen uns selbst überlassen und schlitterten gemeinsam in die Jugendarbeitslosigkeit. Eines unserer wichtigsten Kennzeichen war: Wir sind jung und (zu) viele.

Für dich und deine Freundinnen muss diese Masse heute bedrohlich wirken, denn wir verkörpern die unproduktiven Fresser der Zukunft, die euch eine versaute Welt hinterlassen. Selbst wenn manche von uns Bauplätze besetzt und das Waldsterben beweint haben, sind wir auch wie die Bekloppten in klimaschädlichen Autos durch die Welt gerast, haben die nettesten Plätzchen für den Massentourismus entdeckt und uns mit unserem Befindlichkeitsgehabe um uns selbst gedreht. Keine Generation ohne Fehl.

Nun sind die einstigen Alpha-Mädchen längst erwachsene Frauen geworden, mit eigenen Kindern, und haben erfahren müssen, dass die selbstbewusste Abgrenzung nichts genützt hat. Sie erleben, dass sie noch immer keinen Ernährerlohn für ihre Arbeit bekommen, es spätestens in der Elternzeit ein Ende hat mit der Beziehungsparität und sie schon qua Präsenz dafür zuständig sind, dass der Kühlschrank voll ist und die Münder gestopft sind. Sie machen mit Hashtags wie #aufschrei schmerzerfüllt darauf aufmerksam, dass sich entgegen allen Gesetzen und gegenteiligen Beteuerungen die Männer übergriffige Freiheiten herausnehmen.

Da hat es angefangen mit meiner Ungeduld und mit meinem Zorn. Denn das alles ist ja nicht neu und setzt sich nun in die nächste, deine Generation fort. Es ist so ermüdend, immer wieder zu erklären, dass es den Grapschern nicht um Sex, sondern um Dominanz geht. Dass der Einkommens-Gap nicht nur mit der Verteidigung von Privilegien, sondern mit einer Ökonomie zu tun hat, die sich Care-Arbeit unbezahlt unter den Nagel reißt. Und dass dies wiederum dazu führt, dass viele Frauen spätestens in meinem Alter in die Armut rutschen.

Der stille Neid, den ich einmal gehegt haben mag angesichts der selbstbewussten jungen Frauen, für die Elternzeit und -geld und Kita selbstverständlich sind, ist erloschen, seitdem ich sehe, wie sie sich als Sandwich-Subjekt abstrampeln, beste Mutter, erfolgreiche Berufsfrau und verantwortungsvolle Tochter sein sollen und wollen und viele sich dabei zerreißen. Es empört mich noch heute, dass wir Frauen im Prozess der deutschen Einheit, die wir in Ost und West für eine geschlechtergerechtere Verfassung gestritten haben, von der bestimmenden Männerrunde einfach ausgeknockt worden sind.

Es frustriert mich aber auch, dass die Jüngeren meinen, das Rad immer wieder neu erfinden zu müssen. Mit Rasse, Klasse und Geschlecht wussten wir schon in den 1970ern das zu umschreiben, was viel später mit „Intersektionalität“ angeblich neu in die feministische Umlaufbahn gebracht wurde. Wenn ich einen Wunsch hätte, dann den, dass die vergessenen Archive geöffnet und im Sinne des Weiterdenkens geplündert würden. Doch auch dieses Versäumnis hat strukturelle Ursachen, mit der Bildung von „Schulen“ hatten wir Berufsjuvenile es nicht so, und nur wenige brachten es zu Lehrstühlen. Wir anderen pflegten unsere Gärtchen und den Nachbarschaftsstreit.

Liebe junge Freundin, ich nenne dich Lena, weil das nach 2000 ein beliebter Mädchenname war. Helene hießen einst unsere Großtanten aus jener Generation von Frauenrechtlerinnen wie Helene Lange, die die Erste Frauenbewegung begründete – und deren Verhältnis zu den Töchtern auch konfliktreich war. Vielleicht werdet ihr das selbst erleben, wenn ihr auf anderen Wegen als wir erreicht habt, was wir wollten. So unterschiedliche Ziele haben wir ja nicht, und ich wünsche euch dabei viel Erfolg.

Lesen Sie hier den Brief der „jungen Freundin“ an die schon lang lebende Person

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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