Man weiß nie, wann es losgeht

Robinson 1 Die kränkenden Erfahrungen des studentischen Streikwinters sind noch lebendig. Und plötzlich gibt es wieder Montagsdemonstrationen. Werden auch sie politisch umarmt werden? Widerstand heute - ein Projekt

Wie viele werden am Montagabend auf der Straße gewesen sein? Wird es der Auftakt einer weiter anschwellenden, über das Verhartzungs-Spektakel hinaus weisenden Bewegung werden und den bereits plakatierten "heißen Herbst" einläuten? Oder zeichnet sich bereits der Höhepunkt ab, wie mancherorts (besonders aber in rot-grünen Regierungskreisen) erhofft wird? So lange Menschen sich zusammentun und öffentlich ihren Widerstand kundgeben auf der Straße, gibt es dieses Rätselraten: Wann ist der kritische Punkt erreicht, an dem sich Duldende in Kämpfer verwandeln? Wie wird sich die Bewegung weiter entwickeln? Bleibt sie ein Strohfeuer oder weitet sie sich aus zum Steppenbrand?

Das war schon in den Bauernkriegen so, das prägte die europäischen Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts, die großen Streiks, die Unabhängigkeitsbewegungen, die Studentenunruhen und nicht zuletzt die Wende. Warum hatten ausgerechnet im Oktober ´89 die Leute die Nase voll? Warum sind die Montagsdemonstrationen, bei denen die heutigen - politisch korrekt oder nicht - genial ihre Anleihen machen, nicht in sich zusammengefallen? Wäre der Aufbruch schon früher möglich gewesen? Heerscharen von Aufstandstheoretikern haben darüber sinniert. Und so sehr sie darüber stritten, wie ein Massenprotest revolutionär zu drehen sei, so unterschiedliche Auffassungen über das agierende Subjekt auch kursierten, sicher war eine einzige Sache: Man weiß nie, wann es beginnt! Man kann es nicht planen oder auslösen. Man muss es nehmen, wie es kommt. Bei Hartz IV hat es reichlich lange gedauert. Wer beginnt schon eine Revolution in den großen Ferien? Und wer will schon wissen, ob sich die Leute mit einer Auszahlung mehr und ein paar Freibetragseuro nach Hause schicken lassen oder nicht.

Beim letzten großen Studentenstreik im vergangenen Wintersemester war das genauso. Dass der Protest ausgerechnet von einer protestungeübten Technischen Universität seinen Beginn nehmen würde, zeichnete sich im Vorfeld so wenig ab wie das für die Studierenden frustrierende Finish: Wer hätte nach so viel Einheit, so viel Vielfalt, so viel Phantasie und so viel Unterstützung schon die Prognose gewagt, dass am Ende nichts, gar nichts herauskommen würde?

Vom Streik wollten die Studentinnen und Studenten, die ich durch einen langen Demonstrationswinter begleitet hatte, im Frühjahr, als ich einen Teil von ihnen wieder traf, nichts mehr wissen. Angesichts der großen "politischen Umarmung" insbesondere durch den Berliner Wissenschaftssenat hatte sich der massenhafte Protest, der kollektive Aufmarsch erst einmal blamiert: Ihr könnt ein berechtigtes Ziel verfolgen und gut studieren wollen; ihr könnt das gekonnt verkaufen; ihr seid im Stande, Bündnispartner zu finden - allein: man braucht euch nicht. Ihr seid nicht so wichtig. Wir haben kein Geld für euch und für das, was ihr wollt. Schaut, wo ihr bleibt.

Vielleicht schlug das Unterbewusstsein dann doch ein Schnippchen und der kränkende Stachel steckte tiefer: Denn als wir nach einem Thema für diesen Robinson suchten, konnten sich die Beteiligten nur auf ein einziges einstimmig verständigen: Widerstand. Was kann Widerstand heute noch sein, wo alles mit allem zusammenhängt und das eigene Tun immer wieder an die frustrierende Erfahrung stößt, dass die andere Seite global agiert? Was bedeutet es für junge Leute, wenn die Elterngeneration - ob linksradikal-ökologisch-friedens-und-frauenbewegt im Westen oder bürgerbewegt im Osten - alle Barrikaden schon einmal errichtet und wieder eingerissen hat? Ist das Recht auf Widerstand überhaupt noch eine taugliche politische Alltagskategorie, wo jede Gegenkultur entweder Gefahr läuft, vom System geschluckt zu werden oder eben am Rande bleibt, marginal.

Für Wolfgang Ullmann, unseren kürzlich verstorbenen Herausgeber, der viel Anteil an dieser Beilage nahm, lag die Situation klar auf der Hand: Er sah die Verfassung gefährdet und damit die Republik, und er forderte zum Widerstand heraus. "Wissen Sie", begann er mal, "wir leben in einer Parteiendiktatur." Es mache ihn wütend, den Parteienschacher zu beobachten, weil dabei das Gewissen, dem die Abgeordneten eigentlich verpflichtet seien, auf der Strecke bleibe. Für einen bürgerlichen Verfassungsrechtler war Ullmann am Ende seines Lebens radikal: Warum, so fragte er, erteilen Intendanten Politikern kein Opernverbot als Quittung für verfehlte Kulturpolitik; und die Wähler den Politikern Berufsverbot, indem sie einfach nicht mehr zur Wahl gingen.

Die Sache mit dem Wahlboykott war Wolfgang Ullmanns Lieblingsidee. Er meinte damit nicht einfach passive Stimmenthaltung, sondern ein aktives Votum gegen die derzeit herrschende Politik. Als das Thema dann von zwei Studentinnen aufgenommen wurde, zeigte sich, dass es praktisch viel schwieriger ist, Wahlboykott politisch pointiert in Szene zu setzen, allein schon deshalb, weil der individuelle Wahlakt sich dem organisierten Zugriff entzieht. Und vielleicht auch deshalb, weil am Wahltag viele lieber doch das "kleinere Übel" wählen. Die Boykottinitiativen verlieren sich nach jeder Wahl jedenfalls in der Virtualität des Netzes, und ihre Protagonisten sind real nur noch schwer auffindbar (vgl. S. II).

Gerade im Netz scheint die Idee, weltweiten Widerstand zu koordinieren, zusammenzufassen und schlagkräftig zu machen, realisierbar. Think global, act local: Die Zapatisten in Mexiko, die armen Bauern in Indien, die Globalisierungsgegner in den Metropolen vereint im Protest. Doch die schöne Vorstellung vernetzten Widerstands hat ihre Tücken. Noch immer sind es "Körper von Gewicht", die präsent sein, handeln und "widerstehen" müssen. So wie die virtuelle globale Ökonomie einer wertschaffenden Basis bedarf, so der virtuelle Widerstand konkreter Menschen (vgl. S. III).

Ob man dabei immer schon positive Alternativen im Gepäck haben muss oder einfach nur dagegen sein darf, war in unserer Runde umstritten. Die Bilanz der recherchierten Exempel war allerdings eher ernüchternd. Weder die studentische Unterwanderung von Parteien noch der geldfreie Warentausch liefern überzeugende alternative Modelle für Politik oder Ökonomie. Und gerade die Wende bestätigt theoretische Befunde, nach denen (jugendorientierte) Gegenkultur entweder von der Kulturindustrie vereinnahmt zu werden droht oder eine Nischenexistenz fristet. Die Erfahrungen der MacherInnen des einstigen DDR-Jugendradios DT 64 und des Plattenlabels Buschfunk zeigen indessen auch, dass ein gescheitertes Projekt nicht in Frust und Resignation enden muss (vgl. S. IV). Widerstand - heute (wo)anders? Vielleicht trifft man sich demnächst montagabends wieder.


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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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