Männlein oder Weiblein?

Intersexualität Der Deutsche Ethikrat hat eine geradezu revolutionäre Empfehlung vorgelegt: Es ist Zeit, die Geschlechterdefinition zu überdenken

Es ist das grundlegende Ordnungsmuster der Welt. Es klassifiziert das soziale Leben, ordnet Erscheinungen und Eigenschaften: Sonne-Mond, stark-schwach, kalt-warm. Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann nannte das, was diese binären Unterscheidungen strukturiert, „Leitdifferenz“. Und genau damit startet jeder Mensch ins Leben: Männlein oder Weiblein.

Insofern ist das, was der Deutsche Ethikrat im letzten Punkt seiner jetzt vorgelegten Empfehlung formuliert, geradezu revolutionär: Es sei zu prüfen, gibt der Rat dem Gesetzgeber auf den Weg, ob der Staat seine Bürger und Bürgerinnen künftig noch ver­pflichten sollte, das Geschlecht in das Personenstandsregister eintragen zu lassen.

Denn das, was vielen so selbstverständlich erscheint, nämlich die Welt nach Männern und Frauen zu unterscheiden, ist keineswegs evident. Die Natur zeigt sich, das wusste bereits der große Sexualforscher Magnus Hirschfeld, erheblich phantasievoller und variantenreicher als unsere zweipoligen Geschlechtervorstellungen. Es gibt durchaus uneindeutige Geschlechter, sei es, weil die embryonale Entwicklung nicht „ordnungsgemäß“ verlaufen ist, sei es weil spätere Störungen im Stoffwechsel- und Hormonhaushalt „Abweichungen“ hervorrufen.

Wie viele Menschen davon betroffen sind, weiß niemand genau zu sagen, und bislang gibt es auch nur wenige Studien dazu, wie man sich fühlt, wenn man ein Geschlecht „dazwischen“ hat. Denn Intersexualität ist nach wie vor ein Tabu. Wobei die Betroffenen sich am liebsten gar nicht kategorisieren ließen, weil sie leidvolle Erfahrungen mit scheinbar eindeutigen Ein- und Zuordnungen haben.

Berichte von operativen Zurichtungen im Säuglings- und Kindesalter, Verstümmelungen, Hormontherapien und Bevormundung lehren das Gruseln über einen Medizinbetrieb, der Menschen, die nicht eindeutig männlich oder weiblich sind, zu Patienten deklariert. Diese werden dann nach den Regeln der Kunst belogen und „beschnitten“. Unwissende Eltern, die das Beste wollen, provozieren manchmal das Schlimmste, indem sie ihr Kind zu lebenslangem Schmerz, Angst und Scham verurteilen.

Zu einem Verbot invasiver Eingriffe im Kindesalter, wie von Selbsthilfegruppen gefordert, mochte sich der Ethikrat in seinen Empfehlungen nicht durchringen; vielleicht, weil sich da doch die medizinischen Experten durchsetzten, die nach der Finsternis die Morgenröte an der Geschlechterfront prophezeien und „sensibleren Umgang“ geloben. In guter Tradition wird zur Besänftigung ein Entschädigungsfond angeregt, um die irreversiblen Schäden zu lindern. Das wird auch nötig sein. Denn 61 Prozent der Betroffenen über 37 Jahren geben an, körperlich in mehr oder weniger schlechtem Zustand zu sein. Viele leiden physisch und psychisch an den Folgen der chirurgischen Eingriffe.

In Australien können intersexuelle Menschen sich neuerdings auch als „x“ bezeichnen. Was ja bekanntlich auch das weibliche Chromosom bedeutet. Auch in Europa, in Spanien und Groß­britannien etwa, verflüssigen sich die Geschlechtergrenzen allmählich. In Deutschland, so ist anzunehmen, wird das noch dauern: Die philosophische Tradition ist hierzulande ehern mit „Substanz“ verbunden und mit der Pflicht zur Unterscheidung. Das hat uns nicht nur eine unsäglich tatarme substantivische Sprache beschert, sondern auch einen überaus gezwungenen Umgang mit der spielerischen Natur.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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