Marineblau

FRAKFURTER ABEND Ratsch! Hell kriecht es die schwarze Wade hinunter, oben breitmäulig, nach unten dünnlippig sich kräuselnd und knapp überm Spann vorerst beruhigt. ...

Ratsch! Hell kriecht es die schwarze Wade hinunter, oben breitmäulig, nach unten dünnlippig sich kräuselnd und knapp überm Spann vorerst beruhigt. Mein aufgeregtes Gewühle fördert noch ein softes Etwas zutage. Es ist schummrig im Hotelzimmer, doch das neue Kostümchen, an einem wundersam-schönen Berlinnachmittag erstanden, beisst schaudernd das bestrumpfte Bein. Eindeutig marine, statt schwarz. Unmöglich! Gehetzter Abstieg in die Katakomben des Frankfurter Bahnhofs. Weibliche Dessous und Strumpfwerk gehören doch zum Touristinnenbedarf.

Ein eigenartiges Wiedersehen mit diesem Ort. Hier, im Saal "Ulm", hat alles einmal angefangen. Das war vor genau zehn Jahren, erinnere ich mich, bei den Treffen eines längst vergessenen Herausgeberkreises. Damals begann der Osten gerade kräftig zu wanken, doch die Düsseldorfer Zeitung wusste noch nicht, dass sie bald in einer Berliner Hauptstadt wiederauferstehen würde mit einem ostdeutschen Zwilling. Hier haben wir gestritten über die Überlebensfähigkeit der DDR, die (manche halten es für unfein, daran zu erinnern), auch etwas mit dem Überleben des rheinischen Blattes zu tun hatte.

Die DDR gibt es nicht mehr; und auch der zu Frankfurt gehegte und gepflegte buchhändlerische Sammelrevers und die Preisbindung sind zwischen die Mühlsteine der grossen Politik geraten. Als ich im Stadtteil Seckbach vor fast einem Vierteljahrhundert einen Teil meiner Ausbildung absolvierte, schien dies so unvorstellbar wie der Gedanke, dass Günter Grass, der uns greenhornes damals Fischsuppe kochte und über den "Butt" erzählte, einmal Nobelpreisträger werden würde.

Geblieben ist unverrückt hässlich der Frankfurter Kopfbahnhof. Die aktuelle Ladenschlussdebatte scheint an der Mainmetropole spurlos vorüber gegangen zu sein. Allenthalben geschlossene Läden, lediglich ein asiatisches Ramschgeschäft floriert mit Plunder aller Art. "Kein Damstrumpf", werde ich belehrt. Ein wenig hektisch suche ich weiter, denn marinegescheckt mag ich nicht zu meinem Verlagsessen erscheinen.

Genaugenommen war die Deutsche Bahn schuld an meinem Beindesaster. Die brachte es nämlich anlässlich Buchmesse und Berliner Ferienbeginn nicht fertig, Sonderzüge einzusetzen, und der unfreundlichen Aufforderung am Bahnhof Zoo: "Dann stehnse doch!", wollte ich nicht Folge leisten. Alle guten ökologischen Vorsätze missachtend, hatte ich mich dann wieder einmal auf die Autopiste geschwungen, und morgens um vier vor meinem Klamottengebirge waren schwarz und marine ununterscheidbar grau. Glücklicherweise wird es derzeit auch im Westen Deutschlands schon um sieben Uhr Nacht, und marine geht als schwarz durch. Die Zeitverschiebung nordost-südwest, haben wir einmal ausgerechnet, macht etwa zwanzig Minuten aus. Geklauter Tag, sagen mir meine Berliner Südlandbesucher, die vom Frühaufstehen nichts halten. Nach drei vergeblichen Versuchen gebe ich den Strumpfkauf endlich auf und wärme mich an den altvertrauten Schildern: Eschersheim, Bornheim, Bergen-Enckheim. Die Bilder dazu haben sich verflüchtigt, doch wahrscheinlich würde es mir auch so gehen, wenn mich nach Jahrzehnten auf diese Weise grüssten: Wilmersdorf, Schöneberg, Tiergarten. Heimat ist dort, wo man sich einen Reim machen kann. Das Diner findet nahe beim Messegelände statt, über das ich nachmittags auf Gleitbändern surfen durfte und stippweise bösmenschigen Branchenklatsch verdaute. Mein Leben lang mit Büchern beschäftigt, habe ich die Buchmesse immer als Zumutung empfunden. Es gibt noch immer Dichter, vertraut mir spätabends ein Buchmensch an, die denken, alles drehe sich um sie. Dabei sind sie doch bloss winzigster Trabant im Sonnensystem. Die Hotel-Longue ist überfüllt. Offensichtlich kennen sich alle, nur ich verfehle Erkennungsmarken. Man trägt schwarzes Langes, viel Gold und spricht bevorzugt ausländisch. Ich fühle mich deplaziert und vermeide, auf diese verflixten blauen Beine zu starren. Ein Leben für eine Zeitung! An der Bar sitzt mannsdekoriert eine Dame. Ich beneide sie um den blasierten Blick, mit dem sie in die Runde schaut und mit dem Fuß herrenwinkt. Mit freundlichem Nicken versinke ich im Plüsch-Plumeau. Meine Sitznachbarin grüßt höflich zurück und winkt nach einem Apéritif. Eben strömt ein neuer Gästepulk durch's Entrée. Meine Chancen, den Abend ausländisch parlierend verbringen zu müssen, steigen rasant. Mein Adrenalinspiegel auch.

Plötzlich leert sich die Longue wie durch Zauberhand. Verlassen steht der angetrunkene Apéritif, auch die Bardame ist verschwunden. Irritiert irre ich herum, frage beim Empfang. Die Herrschaften sind in einen Saal entschwunden, der laut Einladung nicht meiner ist. Endlich ein bekanntes Gesicht. Mein Verlagsleiter winkt und nimmt mich in Obhut. Der Abend wird angeregt schwäbisch mit norddeutschen Einsprengseln. Und kein Mensch kümmert sich um das marineblausegelnde Bein.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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