Wahrscheinlich teile ich mit der Autorin nur den Jahrgang. Als Kind wusste wenigstens ich wenig von "Drüben", und auch das Milieu, in dem wir jeweils aufwuchsen, dürfte sich unterschieden haben. Gerade deshalb war der Moment des Wiedererkennens so irritierend. Denn diese "Tante Edeltraut", die die in Leipzig geborene Kathrin Aehnlich in ihrem Roman Alle sterben, auch die Löffelstöre als unangefochtene Autoritätsperson vorstellt, kenne ich nur zu gut. Sie hieß zwar nicht Edeltraut, sondern, wenn ich mich recht entsinne, Lioba, und herrschte statt in einer sozialistischen Kita in einem streng katholischen Kindergarten - die Szene jedoch ist die gleiche.
Sie steht hinter einem am Tischchen und wartet unnachsichtig darauf, dass man die mit glitschiger Haut überzogene und manchmal angebrannte Milchsuppe auslöffelt. Die wird, während man verzweifelt nach Entsorgungsmöglichkeiten ausschaut, immer kälter, klumpiger und ekliger, doch es gibt kein Entrinnen: Was auf dem Teller ist, muss abgegessen werden, damit am nächsten Tag die Sonne scheint und weil die hungernden Biafra-Kinder froh wären, wenn sie so feine Milch bekämen. Nachdem das Zeug dann endlich heruntergewürgt ist, kommt der verordnete kollektive Mittagsschlaf auf einer Pritsche, in lotzenden, kratzigen Rippenstrumpfhosen. Und später, das war dann schon in der Schule, wurden für belobigte Leistungen Kreuzchen und, streng rationiert, Puffreisriegel (im Religionsunterricht Heiligenbildchen, darin unterschieden wir uns wohl) verteilt, damit man lernte, dass Leben ein Wettkampf ist und Leistung sich lohnt. Alles genauso wie bei Edeltraut.
Leider gab es in meiner Kindergartenzeit keinen freundlichen kleinen Ritter namens Paul (eigentlich Jean-Paul, bei Edeltraut eingesächselt zu einem "Schangbol"), der mir in einem unbeaufsichtigten Moment den Teller weggezogen und die Milch ausgelöffelt hätte. Die kleine Namens-Extravaganz teilt Jean-Paul mit Skarlet (das k nach dem Willen der Mutter, das fehlende "t" ein Versehen der Hebamme), sie stiftet das erste freundschaftliche Band zwischen den Kindern, denn beide mögen sie Edeltraut und ihr Regiment nicht, und sie entziehen sich, wo sie können. Die "Zwillinge" werden unzertrennlich, teilen lange Zeit die Schulbank, viel später das Studium, die Freunde, fast alles. Doch Tante Edeltrauts Prophezeiung erfüllt sie nicht: Aus ihnen wird nie ein Paar werden.
Der Roman setzt ein an einem Tag vor Silvester, irgendwann nach der Jahrtausendwende, als Skarlet den endgültig letzten Brief von Paul in den Händen hält, mit einer letzten Bitte: Sie möge eine kurze Grabrede halten bei seiner Beerdigung, "ein bisschen Geschichtenerzählen, ohne Pathos". Denn Paul ist gestorben, nicht bei einem Flugzeugabsturz oder durch ein anderes dramatisches Ereignis, wie sie sich das als Jugendliche immer vorgestellt hatten, sondern ganz banal nach schwerer Krankheit, wie es in den Todesanzeigen heißt. Während Skarlet versucht, mit dieser Tatsache fertig zu werden und Pauls Lebensgefährtin Judith hilft, das Notwendige zu veranlassen, kreisen ihre Gedanken um Paul, die gemeinsame Geschichte, die eben mit jenem Tag im Kindergarten beginnt, als Tante Edeltraut Paul zwingt, seine Hose auszuziehen.
Es ist eine langsame Annäherung, die über einen Zirkus führt und den Leipziger Zoo. Dort ist Skarlet als Pressefrau hängen geblieben, eine Hochstaplerin irgendwie, denn wer betrachtet es schon als Arbeit, für Tiere, zumal für die vom Zoodirektor geliebten Löffelstöre zu werben? Die Erinnerung führt sie zurück in die Kindheit, in der sich Paul so sehr einen Vater gewünscht, während sie, Skarlet, ihren eigenen Vater, einen Geizhals und neurotischen Kontrolleur, gehasst und gehofft hatte, er möge wie Pauls Vater einfach verschwinden. Die Werkstunden bei Herrn Nottelbeck (Deutschland, einig Bastelland), die abgebrochene Christenlehre, die verweigerte Oberschule (was das kostet!) und die sich unendlich hinziehenden Sonntagnachmittage, an denen die Zeit stillzustehen scheint (keineswegs nur im Osten ein Kinderschreck) - dies alles vermischt sich in Skarlets Erinnerung mit Pauls beginnender Krankheit, als sich die Freunde zurückzuziehen beginnen und Skarlet über die gemeinsame Geschichte noch einmal ein ganz neues Band mit ihm knüpft.
Dass Paul und Skarlet - trotz ihrer Unzertrennlichkeit - eigene Wege gehen, widerlegt alle Vorstellungen von der uniformen Existenz im realen Sozialismus und ist Tribut an die Durchschlagkraft psychologischer Erfahrung. Während Skarlet in einer jahrelangen und schließlich scheiternden Ehe "Hirschmausmutter" spielt und aus Angst, den Lebensentwurf ihrer Mutter zu wiederholen, schließlich flieht, zögert der bindungsängstliche Paul so lange, bis es (fast) zu spät ist. Mit seinem Sohn Lukas wird er, todkrank schon, nur ein einziges Weihnachtsfest verleben. Und als Skarlet in ihrem Zoo noch den 40. Republiktag feiert, versetzt es Jean-Paul Langanke, den Filmnarr, in jener Novembernacht 1989 in einen ganz realen Film, in dem er sich, einen einzigen Augenblick lang, als Held fühlen darf.
Die Fülle von Geschichten, mit Paul und Skarlet als Mittelpunkt, überzeugen, weil sie von Kathrin Aehnlich so lakonisch erzählt und wunderbar sinnlich vorgestellt und erfahrbar sind und auf diese Weise die eigenen Erinnerungsbilder aufrufen. "Schon als Kind", führt die Autorin programmatisch ein, sei Skarlet "ständig gescheitert, weil sie versucht hatte, sich alles konkret vorzustellen"; und bereits in ihrer 1998 erschienenen Erzählung Wenn ich groß bin, flieg ich zu den Sternen hatte Aehnlich die Möglichkeiten der Kinderperspektive ausgelotet. Ihr Ton erinnert an das Romandebüt Halbschwimmer der ebenfalls aus Leipzig stammenden Katja Oskamp (Freitag 8/2004) - vielleicht ein Effekt des gemeinsamen Studiums am Leipziger Literaturinstitut und wäre bösartig als Konfektion abzutun, wenn Aehnlich die Tonlage nicht justieren würde auf andere Sinne.
Nicht zufällig sind es bei ihr immer wieder der Geschmack und der Geruch von Essen, die die alten Bilder heraufbeschwören: Die erwähnte Milchhaut im Kindergarten, der Rührkuchen, der an die Warteschlange bei Mitropa erinnert, der billige Fusel der Studentenzeit. Und, richtig gruselig, der alljährliche Silvesterkarpfen: wabbelig, mit einer dicklichen Fettschicht - und das Geräusch, "mit dem der Vater den Karpfenkopf aussaugte: die Kiemen, das Gehirn und zuletzt die Augen." Als Paul schon nicht mehr selbstständig essen kann und künstlich ernährt werden muss, spielen die Freunde das Essenspiel und träumen sich gegenseitig ins "große Fressen" hinein.
Dass der Roman, einmal auf das Zoo-Gleis gestellt, gelegentlich zur biologistisch gefärbten Plauderstunde gerät (von den unvermeidlichen sexbesessenen Bonobos bis hin zum weiblichen "Nestbauinstinkt", der für die "Zucht" lieber auf den langweiligen Bauingenieur Christian zurückgreift als auf den unzuverlässigen Träumer Paul) lässt sich ebenso hinnehmen wie die wiederholt aufgerufenen "Sprelacart"-Tische, die in einem Erinnerungsroman aus dem Osten offenbar einfach nicht fehlen dürfen. Auch das etwas kitschig wirkende Finale (mit wieder gefundenem Kindergartenfreund) nimmt man gern in Kauf.
Nur dass Aehnlich Skarlets Vater so gar keine Zwischentöne zubilligt und auch Pauls (abwesender) Vater nur als blöder Loser vorgeführt wird, sollte misstrauisch machen: Als ob sich die Freundschaft zwischen Skarlet und Paul nur auf der Negativfolie versagender Männer hätte entwerfen lassen - und Aehnlich am Ende dann doch noch einem Klischee erlegen wäre.
Kathrin Aehnlich: Alle sterben, auch die Löffelstöre. 249 S., Arche, Zürich, Hamburg 2007, 248 S., 19 EUR
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