Mit Heraklit im Gen-Dschungel

ERÖFFNUNG DES "JAHRES DER LEBENSWISSENSCHAFTEN" Die Vertreter der "roten" Gentechnologie wittern Morgenluft, während das Kabinett mit verteilten Rollen agiert

Ich weiß nicht, woher ich komme, ich weiß nicht, wer ich bin, ich weiß nicht, warum ich so fröhlich bin: Ausgerechnet den unglücklichen Heinrich von Kleist, der bekanntlich an seinem Leben litt als "dem allerqualvollsten, das je ein Mensch geführt hat", rief der Genetiker Detlev Ganten am vergangenen Donnerstagabend als Zeugen auf, um seine Neugier auf das "Rätsel des Lebens" zu begründen. Mit Kant und Kleist im Gepäck läutete der Direktor des Berliner Max-Delbrück Centrums für Molekularmedizin zusammen mit Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn im Martin-Gropius-Bau das "Jahr der Lebenswissenschaften" ein, in dessen Verlauf der "Gen-Dschungel" durchforstet und "das Leben lexikalisch" erfasst werden soll. Im Gegensatz zu Kleist wirkte der Redner, der die beeindruckende Gesamtschau menschlicher Evolutionsentwicklung auf die Dialogfähigkeit des menschlichen Gehirns verengte, überhaupt nicht fröhlich, als er mehrfach durch anhaltendes Klatschen im Saal am Sprechen gehindert wurde. Der "Beifall" kam von der falschen Seite und drückte den Protest gegen die Veranstalter aus, die es bei dieser Auftaktveranstaltung nicht für notwendig befunden hatten, medizinkritische Vertreter aus der Behindertenbewegung aufs Podium zu laden.

Aufklärung von oben nach unten

Das am 1. Februar ausgerufene "Jahr der Lebenswissenschaften" ist tatsächlich ein Signal. Nachdem die Vertreter der sogenannten Life Sciences im letzen Jahr mehr und mehr in die Defensive geraten waren, weil es nicht zuletzt der damaligen Gesundheitsministerin Fischer gelang, einen offenen und nicht-hierarchischen Dialog zwischen Fachwissenschaftlern und kritischer Öffentlichkeit zu organisieren, gehen die Medizinlobbyisten nun entschlossen in die Offensive. Im Martin-Gropius-Bau jedenfalls musste sich Detlev Ganten nicht, wie noch kürzlich auf einer Diskussionsveranstaltung, von einem Mukoviszidose-Patienten fragen lassen, an welchem Maß er die Lebensqualität von Schwerbehinderten messe. Die "Aufklärung", die sich Ministerin Bulmahn in Kaufhäusern und überall dort wünscht, wo Menschen zusammenkommen, weist nun eher von "oben" nach "unten". Über 62 Prozent der Bundesbürger fühlen sich nach neueren Umfragen schlecht über Gentechnik informiert, und Ziel der Kampagne ist es, die "Kluft zwischen Wissenden und Nichtwissenden" zu schließen durch "wissende" Fachvertreter.

Dabei tun sich bereits die Wissenschaftler aus fachfremden Bereichen in ihrem "Diskurs über das Leben" schwer. Das Auftaktpodium ließ wissenschaftlichen Tiefgang ebenso vermissen wie interdisziplinäre Dialogfähigkeit. "Wir sprechen verschiedene Sprachen", erkannte Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslin-Volhard, während Peter Sloterdijk, ohne dessen philosophische Schirmherrschaft offenbar keine Gentech-Runde mehr auskommt, von der "Körperfabrik der kleinsten Teilchen", über die letztlich jeder Mensch selbst verfüge, schwadronierte.

Nachdem die SPD die "grüne" Gentech unter dem Druck von BSE - zumindest öffentlich - zurückgepfiffen hat, öffnet sie der "roten" die Tür. Dabei agiert das Kabinett mit verteilten Rollen. Während Justizministerin Däubler-Gmelin dem "britischen Weg des Klonierens" nicht folgen und "aus verfassungsrechtlichen Gründen" keine verbrauchende Embryonenforschung zulassen will, lässt Bundeskanzler Schröder offen, ob diese Möglichkeit nicht "irgendwann" erlaubt werden muss. Auch für Forschungsministerin Bulmahn sind gezüchtete menschliche Klone als lebende Organspender "kein Thema", wie sie in ihrer Eröffnungsrede am Freitag annoncierte. Dennoch will sie an der "Überbietung der bisherigen medizinischen Erfolge" mitwirken und dafür sorgen, dass deutsche Forscher der Weltspitze "nicht hinterherhinken".

"Frauenpolitische Perspektive" als Totschlagargument

Mittlerweile hat sich auch die neue Gesundheitministerin Ulla Schmidt zum Thema Stammzellenforschung, Präimplantationsdiagnostik (PID) und das Schicksal des von Andrea Fischer hinterlassenen Fortpflanzungsmedizingesetz geäußert. In einem Interview mit der Berliner Zeitung erklärt sie den Entwurf zwar für erledigt, gleichzeitig will auch sie nicht am Embryonenschutzgesetz flicken. Hinsichtlich des Gen-Checks für IVF-Embryonen allerdings sieht sie Handlungsbedarf und argumentiert aus der Sicht der Frauen: Warum, fragt sie, sollte die Frage nach einer schweren Erbkrankheit gestellt werden dürfen, wenn sich der Embryo im Mutterleib eingenistet hat, aber nicht, wenn er im Reagenzglas erzeugt wird? Während die Spätabtreibung nach § 218 bei einer schweren Schädigung des Embryos erlaubt ist, ist die Selektion von im Reagenzglas gezeugten und eventuell geschädigten Embryonen bislang verboten.

Bereits im März vergangenen Jahres hatte die Bundesärztekammer ein Diskussionspapier entworfen, das einer künftigen Richtlinie zur PID auf den Weg helfen sollte und dafür plädierte, PID unter bestimmten, eng gefassten Indikationen zuzulassen. Im Sommer diesen Jahres wird nicht nur die Stellungnahme des Ethikausschusses des Bundestages erwartet, sondern auch ein Rechtsgutachten, von dem erwartet wird, dass es für die Freigabe der PID plädiert.

Die frauenpolitische Perspektive erweist sich dabei ungewollt als Einfallstor für selektive medizinische Maßnahmen, denn wer wollte ernsthaft eine Frau zur Austragung eines behinderten Kindes zwingen - und das heißt im Umkehrschluss auch, zur Einpflanzung eines möglicherweise "defekten" Embryos? Dem Wunsch, Leiden zu vermeiden, ist nicht einfach zu begegnen, indem Behinderung geleugnet oder umgewertet wird; das wissen auch die Behindertenverbände, die in der Frage von PID schwankend sind. Doch darf umgekehrt das Argument der individuellen Leidvermeidung dazu führen, medizinkritische Stimmen, die auf die politische Dimension selektiver "Therapien" hinweisen, einfach mundtot zu machen?

PID - Türöffner für die embryonale Stammzellenforschung

Selten wird in der Diskussion darauf hingewiesen, dass die Zulassung der PID auch Folgen für die - noch - verbotene Forschung an Embryonen haben könnte. Wenn nämlich PID erst einmal angewandt werden sollte - und die Erfahrungen der Pränataldiagnostik zeigen, wie schnell sich ein vereinzeltes Diagnoseverfahren in ein allgemeines Screening verwandelt -, dann fallen auch "überzählige" Embryonen aus der IVF an. Schon sind Stimmen wie etwa seitens des Aachener Anatoms Henning Beier oder des Gutachters der Bundesärztekammer, Karl-Friedrich-Sewing, zu hören, die dafür plädieren, die "todgeweihten überzähligen Embryonen" nicht einfach "wegzukippen", sondern sie "nützlicher" Forschung zugänglich zu machen.

Die PID würde dann zum Türöffner der von fast allen Seiten - noch! - abgelehnten embryonalen Stammzellenforschung - eine Forschung, die an Embryonen aus Abtreibungen, das wird oft vergessen, in der Bundesrepublik momentan ohnehin stattfindet, weil hier weder das Embryonenschutzgesetz noch der § 218 greift. Während die Bonner Forschungsgruppe um den Neuropathologen Oliver Brüstle ungeduldig darauf wartet, dass die DFG Gelder für die Forschung an aus dem Ausland importierten Embryonen bewilligt, setzt sich der Chefarzt der DRK-Kliniken, Heribert Kenntenich, für die Legalisierung der Eizellspende ein, mit der Begründung, dass "Gameten gleich behandelt" werden sollten. Nicht erwähnenswert findet er, dass die Eizellspende eine notwendige Voraussetzung für das sogenannte "therapeutische Klonen" ist. Der Druck von Seiten der Medizinlobbyisten auf die Politik wächst rasant, und man darf gespannt sein, wie lange Frau Däubler-Gmelin noch "niemanden kennt, der das Embryonenschutzgesetz ändern will".

Sie halte die Vorstellung, dass das "therapeutische Klonen" tatsächlich zu neuen Organen und am Ende zu einem "neuen Menschen" führe, für verfehlt, erklärte Nüsslin-Volhard in der Abschlussrunde im Gropius-Bau, und Jens Reich sekundierte ihr unter Applaus, ein auf biologischer Basis gezüchteter "neuer Mensch" sei allenfalls "Pfuscherei". Doch so skeptisch sich selbst renommierte Fachkollegen gelegentlich äußern: Der von Forschungsministerin Bulmahn ausgegebene Slogan "wichtig ist das Ziel, das erreicht werden soll" editiert am Ende eine die Mittel heiligende Zweck-Ethik, die (fast) alles erlaubt, so lange das Ziel erreichbar scheint. Wie viel Selbst-Erkenntnis verträgt der Mensch? Die heraklitische Sichtweise, der uns der Genetiker Ganten anempfiehlt und die den armen, von Zwiespalt zerrissenen Kleist an den Wannsee trieb, hat ihre Tücken, denn der alles steuernde "reine" Logos teilt die Welt in Dienende und Bediente.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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