Mit Instinkt für den tierischen Markt

Leben ohne Leerlauf Zum 100. Geburtstag von Konrad Lorenz

Als Gast in der Evangelischen Akademie Tutzing kann man gelegentlich Zeuge eines eigenartigen Schauspiels werden: In den Sommermonaten laufen die Zivis der Akademie am hauseigenen Ufer auf und ab, gestikulieren wild und stoßen tierischeLaute aus. Gefragt, was das Schauspiel denn soll, werden sie erwidern, dass sie angewiesen sind, die Gänse, die die Parkanlage mit ihrer Grütze beglücken, zu verscheuchen. "Das san die Graugäns vom Lorenz", setzen sie erklärend hinzu.

Die "oberbayrischen Graugäns vom Lorenz", diese Verbindung ist so unverrückbar, dass sie jedes Kind versteht. Dass "der Lorenz" schon seit fast einem Vierteljahrhundert tot ist und das legendäre Institut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen pünktlich zu Lorenz 100. Geburtstag abgewickelt wird, spielt dabei so wenig eine Rolle wie die Tatsache, dass die Nachfahren der Lorenzschen Graugänse eigentlich in einem österreichischen Alpental bei Grünau zuhause sind, nachdem sie in einer zoologischen Pionierleistung Anfang der siebziger Jahre aus Oberbayern umgesiedelt worden waren. Zwanzig der damals 248 zwangsversetzten Tiere allerdings hatte es schnell in die alte Heimat zurückgezogen, und manche der in Grünau ansässigen Vögel kamen zumindest zum Brüten in das klimatisch freundlichere Alpenvorland.

"Die Tiere fressen mir die Haare vom Kopf"

Ob es wirklich deren Nachkommen sind, die in Tutzing ihr Geschäft verrichten, kann nicht verbürgt werden. Sicher ist aber, dass sich die Sache mit den Graugänsen, die für immer mit dem Namen des Physiologen und Begründers der vergleichenden Verhaltensforschung verknüpft sein wird, einem Zufall verdankt, der banale Gründe hatte. Im elterlichen Anwesen Altenberg in der Nähe von Wien, wo Konrad Lorenz in den dreißiger Jahren lebte und das er im Laufe weniger Jahre in eine ornithologische Forschungsanstalt verwandelte, residierten Reiher und Störche, Bussarde und Adler, Komorane und Falken, jede Menge Krähen und Elstern, exotische Papageien und Sittiche, ein Schwadron seltener Enten aller Art - aber nur zwei Graugänse. Als Lorenz 1935 seine Assistentenstelle bei seinem Anatomielehrer Ferdinand Hochstetter in Wien verlor, wurde die Menagerie zum finanziellen Problem: "Die Tiere fressen mir die Haare vom Kopf", klagte er 1937 in einem Bettelbrief an die deutsche Kaiser-Wilhem-Gesellschaft (KWG), von der er sich Unterstützung versprach. Schon Mitte der dreißiger Jahre sah er sich gezwungen, auf die teuren Entenarten zu verzichten und sie durch billige Graugänse vom Neusiedler See zu ersetzen: So kam Konrad Lorenz auf die Gans und das, was ihn als Tierbeobachter weltweit bekannt gemacht hat: Das Instinktverhalten der Tiere, ihre frühe Prägung, ihr Aggressionsverhalten und ihre Kommunikationsgewohnheiten.

Wissenschaftliche Erkenntnis verdankt sich, wie das Beispiel Lorenz zeigt, immer wieder einer Reihe von Zufällen. Dass es über den Zufall hinaus dennoch biographische, wissenschaftliche und politische Folgerichtigkeiten gibt, die einen Konrad Lorenz eben nicht - wie seinen als Chirurg ebenfalls berühmt gewordenen Vater Adolf - bei der Medizin hielten, sondern in das unbestellte Feld zwischen Anatomie, Zoologie und Psychologie trieben, lässt sich in der eben erschienenen außerordentlich materialreichen, wissenschaftlich informierten und (dennoch) sehr verständlichen Biographie von Klaus Taschwer und Benedikt Föger nachlesen. Ihre Lektüre ist um so ertragreicher, als sie im Unterschied zu einer früheren Publikation der beiden Wiener Autoren über Verstrickung Konrad Lorenz in den Nationalsozialismus (vgl. hierzu auch Freitag vom 23.3.2001) mit einer differenzierteren Analyse der Wechselwirkungen zwischen Politik, Wissenschaftskonjunkturen und persönlicher Disposition aufwartet.

Dass es den am 7. November 1903 geborenen Konrad Lorenz mehr zu den Tieren als zu den Menschen zog, zeichnete sich schon in seiner im Rückblick als "paradiesisch" erklärten Kindheit in Altenberg ab, wo er sich als begeisterter Aquarist und Terrarist betätigte und als erstes höheres Tier eine Hausente sein eigen nennen durfte. Immerhin hätte dem jungen Mann, der nach dem Gymnasium auf Wunsch des Vaters Medizin studierte, auch eine Karriere als Rennfahrer offen gestanden. Was vom kurzen Ausflug in die Motorwelt übrig blieb, waren vom Modell abgeleitete Begrifflichkeiten: "Übersprungsbewegung", "Leerlauf-" und "Auslöserhandlung".

Hoffnung auf eine "vorurteilsfreie und objektive" Wissenschaft

Eines "Auslösers" für seine Entscheidung, sich der Beobachtung von und Forschung an Tieren zu widmen, bedurfte es nicht. Eher tat Unterstützung von außen Not: Sein Vater stand dem in jeder Hinsicht aufwändigen Zoo in Altenberg ohnehin ablehnend gegenüber, und im streng disziplinierten Wissenschaftsbetrieb gab es noch keinen Platz für die später so genannte Ethologie. Lorenz Vorstellungen von "Instinktverhalten" stieß in allen verwandten Fächern auf Misstrauen: Die zeitgenössische behaviouristisch dominierte Psychologie, die alles Verhalten als erlernt betrachtete, stieß sich am Triebkonzept, und der Blick der Zoologen war auf die physiologische Beschreibung von Tieren verengt. Am abträglichsten für Lorenz Pläne allerdings war die österreichspezifische, klerikal geprägte Ablehnung des Darwinismus, auf den sich der junge Forscher ganz selbstverständlich stützte.

So richteten sich Lorenz Hoffnungen ab Mitte der dreißiger Jahre auf Deutschland und die dort angeblich herrschende "vorurteilsfreie und objektive Wissenschaft". Als eine "Erlösung für die Wissenschaftler" begrüßte Lorenz deshalb den österreichischen "Anschluss" an das Deutsche Reich 1938. Bei Lorenz verbanden sich damit keineswegs nur Karriereambitionen, die ihm in Österreich vorenthalten wurden; er hatte durchaus einen "Instinkt" dafür, dass seine Forschungen in der künftigen deutschen Wissenschaftslandschaft "anschlussfähiger" sein würden als in seiner Heimat. Dabei stand er mit seinen Theorien von "Arterhaltung" und "Auslese", die er an Tieren belegen zu können glaubte und die er durchaus nonchalant auch in die Humanethologie verlängerte, in seiner Zeit keineswegs allein, und sie wurden auch nicht nur im rechten Lager propagiert; zumindest die positive Eugenik hatte in der linken europäischen Wissenschaftselite viele Anhänger. Wie auf so vielen anderen Gebieten erntete der Nationalsozialismus auch in der Wissenschaft "nur" auf bereits bestellten Äckern.

Dass Lorenz im Juni 1938 dann allerdings in die NSDAP eintrat - eine Tatsache, der zu stellen er sich zeitlebens weigerte - war keine Notwendigkeit, sondern ein persönlicher Entschluss, der wohl nicht nur seinen Karriereaspirationen diente, sondern auch seiner - möglicherweise naiven - politischen Überzeugung entsprach. Was gegen Lorenz als "begeistertem Nazi" in diesem Zusammenhang vorzubringen ist - seine durchaus rassistisch auszubeutende These von der "Verhaustierung des Menschen", einige eindeutig rassepolitisch motivierte Aufsätze und seine Mitarbeit beim Rassenpolitischen Amt -, tragen die Biographen noch einmal zusammen, halten sich mit einer Kommentierung jedoch bemerkenswert zurück. Ein in diesem Zusammenhang interessantes, wenig bekanntes Detail ist die mehrjährige Tätigkeit des Forschers als Militärpsychiater während des Zweiten Weltkriegs in Posen: Welchen Experimenten Lorenz die ihm zugeführten kriegstraumatisierten Soldaten dort unterzogen hat, lässt sich offenbar nicht mehr rekonstruieren, sicher ist nur, dass sie mit Lorenz Gefangennahme durch die sowjetische Armee endeten.

1938 ließ der Karrieresprung allerdings noch auf sich warten. Dass Konrad Lorenz 1940 schließlich als Nachfolger von Arnold Gehlen ausgerechnet auf dem Kant-Lehrstuhl in Königsberg landete, war eher ein Zufall. Aber den in der nationalsozialistischen Ära geknüpften Kontakten war es zu verdanken, dass Lorenz, der nach dem Krieg trotz "Persilschein" in Österreich zunächst keinen Fuß mehr in die Universität brachte, von der Nachfolgeorganisation der KWG, der Max-Planck-Gesellschaft, protegiert wurde. Sie ermöglichte ihm die langersehnte Forschungsstätte, zunächst im niedersächsischen Buldern, später im oberbayrischen Seewiesen. Begünstigt wurde dieser Neubeginn außerdem dadurch, dass sich die Ethologie nach dem Krieg international durchzusetzen und zu etablieren begann.

"Das Predigen ist mir nämlich ehrlich stinklangweilig"

Als Lorenz 1963 mit seiner Schrift Das sogenannte Böse, die ihn nicht nur als Erzähler populärer Tiergeschichten, sondern auch als Interpret menschlicher Aggressionsneigung weit über die akademischen Zirkel hinaus berühmt machen sollte, an die Öffentlichkeit trat, war er jedenfalls fest etabliert. Seine These vom angeborenen arterhaltenden Aggressionsverhalten war heftig umstritten, zumal sie auch ein willkommenes Entlastungsangebot an die NS-Generation zu machen schien. Mit dieser Schrift jedenfalls begann für Lorenz eine - von ihm selbst eher ambivalent empfundene - zweite Karriere als Gesellschaftsdiagnostiker und "Menschheitsarzt", der die "Grenzen des Wachstums" vorhersah und bis ins hohe Alter auch politisch aktiv den Schutz der Umwelt einklagte.

Dass dem mittlerweile Siebzigjährigen zusammen mit zwei seiner Mitstreiter 1973 der Nobelpreis für Physiologie zuerkannt wurde, dürfte wohl auch an der außergewöhnlichen Persönlichkeit Lorenz gelegen haben, der viel früher als die meisten seiner Kollegen den Selbstvermarktungszwang der Wissenschaft erkannte - und hier war er unschlagbarer Darsteller in eigener Sache. Für die Entscheidung des Nobelpreiskomitees war es offenbar auch kein Hinderungsgrund, dass Lorenz damals den wissenschaftlichen Anschluss längst verloren hatte und er weder den quantifizierenden Methoden der Biologie etwas abzugewinnen vermochte, noch sich in die Denkmodelle der neu entstehenden Soziobiologie hineindenken wollte; schwerer wog wohl seine Liaison mit den Nazis, die dann auch öffentlichkeitswirksam ausgeschlachtet wurde.

In seinem letzten Lebensabschnitt, der ihn in die Heimat nach Altenberg zurückführte, näherte sich Lorenz immer mehr dem konservativen Flügel der österreichischen Umweltbewegung an, für die Lorenz das medienwirksame Aushängeschild wurde. Seinen Gänsen blieb er - durchaus pragmatisch übrigens - verbunden. Als das letzte Junge der berühmten Graugans Martina einging, schrieb er an seinen Freund Otto Koehler: "Wir haben sie ausgestopft, teils in uns hineingestopft."

Dabei blieb Lorenz, der ziemlich rücksichtslos seine zoologische Leidenschaft auslebte, zeitlebens angewiesen auf "die Frau an seiner Seite", Margarethe Lorenz, die vor dem Krieg als Gynäkologin und nach dem Krieg als Subsistenzgärtnerin den Lebensunterhalt der Familie sicherte, den Altenberger "Betrieb" am Laufen und Lorenz den Rücken frei hielt. Die über achtzigjährige Zweisamkeit der Eheleute begann von frühesten Kindesbeinen an, als die drei Jahre ältere Gretl den kleinen Konrad hütete - im Denkhorizont des Verhaltensforschers wohl eine "Prägung" auf Lebenszeit. Lorenz überlebte seine Frau nur um wenige Jahre. Als er im März 1989 starb, soll eine Schar Graugänse sein Haus überflogen haben.

Literatur:

Klaus Taschwer/Benedikt Föger: Konrad Lorenz. Biographie. 340 Seiten, Zsolny-Verlag, Wien 2003

Benedikt Föger/Klaus Taschwer: Die andere Seite des Spiegels. Konrad Lorenz und der Nationalsozialismus. Czernin-Verlag, Wien 2001


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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