Mit Knarre ins Rathaus

Gemeinwohl Unzufrieden, rechts, brutal: Gewalttäter suchen sich immer häufiger BürgermeisterInnen als Zielscheibe ihrer Taten aus
Ausgabe 03/2020

Eeine „Schule der Demokratie“ hat Bundespräsident Theodor Heuss 1921, damals noch Stadtverordneter von Berlin-Schöneberg, die Kommunalpolitik einmal genannt. Nicht nur biete sie Nachwuchspolitikern ein erstes Übungsfeld, auch die Bevölkerung lerne dort hautnah, was Demokratie bedeute. Momentan allerdings hat man den Eindruck, dass sich die Kommunalpolitik eher zu einer Schule des Horrors entwickelt. Werden Bürgermeister oder Ratsfrauen künftig mit der Pistole im Halfter auf Sitzungen oder beim Vereinsfest auflaufen, wie es der Fall des Bürgermeisters von Kamp-Lintfort ahnen lässt? Christoph Langscheidt hat kürzlich einen Waffenschein beantragt, weil er massiv von Rechtsextremen bedroht wird, nachdem er deren volksverhetzenden Wahlplakate hat abhängen lassen. Oder müssen Kommunalpolitiker künftig mit einer gepanzerten Limousine durch die Gegend gekarrt und ihr Nachwuchs unter Polizeischutz zur Schule gebracht werden, um sie zu schützen? Wo leben wir eigentlich?!

2019 hat sich nach vorläufigen Erhebungen die Zahl der polizeilich erfassten Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger deutlich auf über 1.200 erhöht, in Niedersachsen stiegen sie auf 167 (59 mehr als im Vorjahr), in Sachsen und Thüringen haben sie sich sogar verdoppelt. Laut einer Umfrage der Zeitschrift Kommunal unter 1.000 Bürgermeistern mussten sich vergangenes Jahr 40 Prozent aller Amts- oder Mandatsträger, aber auch Rathausangestellte schon einmal beschimpfen oder bedrohen lassen, betroffen waren 900 Städte und Gemeinden (2017: 650). Der Anstieg könnte allerdings auch darauf zurückzuführen sein, dass solche Vorfälle inzwischen öfters zur Anzeige kommen. Wem die dürren Zahlen nicht genügen: Die vom Deutschen Städtetag publizierte Zeitschrift hat die Rubrik „Gewalt gegen Amtsträger“ eingerichtet, die eine Vorstellung vermittelt, wie sich Hass und Gewalt konkret äußern und welche Folgen sie haben. Da flattern Bürgermeistern mit Kot gefüllte Drohbriefe ins Haus, Gemeinderäte finden ihr Auto mit Hakenkreuzen beschmiert oder mit aufgeschlitzten Reifen vor, Kinder werden gestalkt oder stoßen im Garten auf einen Galgen mit dem Foto ihres Vaters.

Und die Übergriffe werden immer brutaler: Der Freiburger Oberbürgermeister (OB) Martin Horn wurde auf einer Wahlparty niedergeschlagen, in Wismar ein Kommunalpolitiker der Linken mit Messerstichen verletzt, in Hockenheim der OB aus dem Haus geklingelt und ihm ins Gesicht geschlagen. Oft reagiert die Polizei desinteressiert, hilflos oder überfordert, die Betroffenen fühlen sich alleingelassen.

Wer will es ihnen verdenken, wenn sie sich dann aus der Politik verabschieden? In Arnsdorf (Sachsen) trat Bürgermeisterin Martina Angermann (SPD) zurück, weil sie aufgrund jahrelanger Hetze und Mobbing erkrankt ist, in Bocholt der SPD-Vorsitzende Thomas Purwin, und zuletzt verzichtete Arnd Focke, Bürgermeister im niedersächsischen Estorf, auf sein Amt, weil er sich und seine Familie aus der Schusslinie der Rechtsextremen bringen wollte: „Wir vergasen dich wie die Antifa“, klebten sie ihre Botschaft an die Windschutzscheibe.

Aber auch wem die geplante Umgehungsstraße nicht schnell genug gebaut wird, wer sich über das marode Hallenbad ärgert oder die steigende Grundsteuer, fühlt sich berechtigt, Hassmails zu verbreiten oder sogar persönlich im Rathaus aufzukreuzen, um mal richtig die Sau rauszulassen. Individuelles Anspruchsdenken und Gemeinwohl sind immer weniger kongruent, die „Krise der Demokratie“ hat nun ausgerechnet die Ebene der Politik erreicht, auf der oft noch ehrenamtlich gearbeitet wird und bürgernah. Jedenfalls der Idee nach, und oft auch in der Praxis. Bürgermeister räumen mit der Kriminalität auf wie Bart Somers im belgischen Mechelen, stiften Städtepartnerschaften, knüpfen globale Netzwerke – oder bieten eben auch Rechten Paroli wie Christoph Langscheidt.

Doch deren Kalkül ist es, den Staat von unten her auszuhöhlen, zu destabilisieren – und, wenn sich kein Bewerber mehr für ein Amt findet, es selbst zu besetzen, wie es im hessischen Altenstadt NPD-Mitglied Stefan Jagsch bei der Überrumpelungswahl zum Ortsvorsteher vorgeführt hat. Ohnehin wird es immer schwieriger, Bürgermeisterämter zu besetzen und Gemeinderäte zu finden, die sich die zeitaufwendige und unbezahlte Arbeit aufhalsen wollen. Das ist ein Grund, dass von den rund 300 gewählten Amtsträgern nur zehn Prozent Frauen sind und der Frauenanteil der Oberbürgermeister regelrecht eingebrochen ist, nämlich von 17,7 Prozent im Jahr 2008 auf 8,2 Prozent 2017. Ein anderer, entscheidender könnte sein, dass sie sich rechtsradikalen Übergriffen noch ausgesetzter empfinden als Männer.

Wie reagiert die Politik? Bloß keine Schießeisen in den Rathäusern! So viel Selbstverteidigung will weder die Chefin der Bundeswehr, Annegret Kramp-Karrenbauer, noch Justizministerin Christine Lambrecht, obwohl beide auf mehr Schutz von Kommunalpolitikern dringen und über eine Meldepflicht in diesen Fällen nachdenken. Auch ein neuer Straftatbestand, „Politiker-Stalking“, ist im Gespräch. Umfassender Personenschutz dürfte kaum realisierbar sein.

Nachdenklich sollte aber stimmen, dass das Phänomen zunehmender Hass- und Gewaltkriminalität zuerst in den realen Schulen zu beobachten war. Nun ist sie auch in der „Schule der Demokratie“ angekommen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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