Eeine „Schule der Demokratie“ hat Bundespräsident Theodor Heuss 1921, damals noch Stadtverordneter von Berlin-Schöneberg, die Kommunalpolitik einmal genannt. Nicht nur biete sie Nachwuchspolitikern ein erstes Übungsfeld, auch die Bevölkerung lerne dort hautnah, was Demokratie bedeute. Momentan allerdings hat man den Eindruck, dass sich die Kommunalpolitik eher zu einer Schule des Horrors entwickelt. Werden Bürgermeister oder Ratsfrauen künftig mit der Pistole im Halfter auf Sitzungen oder beim Vereinsfest auflaufen, wie es der Fall des Bürgermeisters von Kamp-Lintfort ahnen lässt? Christoph Langscheidt hat kürzlich einen Waffenschein beantragt, weil er massiv von Rechtsextremen bedroht wird, nachdem er deren volksverhetzenden Wahlplakate hat abhängen lassen. Oder müssen Kommunalpolitiker künftig mit einer gepanzerten Limousine durch die Gegend gekarrt und ihr Nachwuchs unter Polizeischutz zur Schule gebracht werden, um sie zu schützen? Wo leben wir eigentlich?!
2019 hat sich nach vorläufigen Erhebungen die Zahl der polizeilich erfassten Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger deutlich auf über 1.200 erhöht, in Niedersachsen stiegen sie auf 167 (59 mehr als im Vorjahr), in Sachsen und Thüringen haben sie sich sogar verdoppelt. Laut einer Umfrage der Zeitschrift Kommunal unter 1.000 Bürgermeistern mussten sich vergangenes Jahr 40 Prozent aller Amts- oder Mandatsträger, aber auch Rathausangestellte schon einmal beschimpfen oder bedrohen lassen, betroffen waren 900 Städte und Gemeinden (2017: 650). Der Anstieg könnte allerdings auch darauf zurückzuführen sein, dass solche Vorfälle inzwischen öfters zur Anzeige kommen. Wem die dürren Zahlen nicht genügen: Die vom Deutschen Städtetag publizierte Zeitschrift hat die Rubrik „Gewalt gegen Amtsträger“ eingerichtet, die eine Vorstellung vermittelt, wie sich Hass und Gewalt konkret äußern und welche Folgen sie haben. Da flattern Bürgermeistern mit Kot gefüllte Drohbriefe ins Haus, Gemeinderäte finden ihr Auto mit Hakenkreuzen beschmiert oder mit aufgeschlitzten Reifen vor, Kinder werden gestalkt oder stoßen im Garten auf einen Galgen mit dem Foto ihres Vaters.
Und die Übergriffe werden immer brutaler: Der Freiburger Oberbürgermeister (OB) Martin Horn wurde auf einer Wahlparty niedergeschlagen, in Wismar ein Kommunalpolitiker der Linken mit Messerstichen verletzt, in Hockenheim der OB aus dem Haus geklingelt und ihm ins Gesicht geschlagen. Oft reagiert die Polizei desinteressiert, hilflos oder überfordert, die Betroffenen fühlen sich alleingelassen.
Wer will es ihnen verdenken, wenn sie sich dann aus der Politik verabschieden? In Arnsdorf (Sachsen) trat Bürgermeisterin Martina Angermann (SPD) zurück, weil sie aufgrund jahrelanger Hetze und Mobbing erkrankt ist, in Bocholt der SPD-Vorsitzende Thomas Purwin, und zuletzt verzichtete Arnd Focke, Bürgermeister im niedersächsischen Estorf, auf sein Amt, weil er sich und seine Familie aus der Schusslinie der Rechtsextremen bringen wollte: „Wir vergasen dich wie die Antifa“, klebten sie ihre Botschaft an die Windschutzscheibe.
Aber auch wem die geplante Umgehungsstraße nicht schnell genug gebaut wird, wer sich über das marode Hallenbad ärgert oder die steigende Grundsteuer, fühlt sich berechtigt, Hassmails zu verbreiten oder sogar persönlich im Rathaus aufzukreuzen, um mal richtig die Sau rauszulassen. Individuelles Anspruchsdenken und Gemeinwohl sind immer weniger kongruent, die „Krise der Demokratie“ hat nun ausgerechnet die Ebene der Politik erreicht, auf der oft noch ehrenamtlich gearbeitet wird und bürgernah. Jedenfalls der Idee nach, und oft auch in der Praxis. Bürgermeister räumen mit der Kriminalität auf wie Bart Somers im belgischen Mechelen, stiften Städtepartnerschaften, knüpfen globale Netzwerke – oder bieten eben auch Rechten Paroli wie Christoph Langscheidt.
Doch deren Kalkül ist es, den Staat von unten her auszuhöhlen, zu destabilisieren – und, wenn sich kein Bewerber mehr für ein Amt findet, es selbst zu besetzen, wie es im hessischen Altenstadt NPD-Mitglied Stefan Jagsch bei der Überrumpelungswahl zum Ortsvorsteher vorgeführt hat. Ohnehin wird es immer schwieriger, Bürgermeisterämter zu besetzen und Gemeinderäte zu finden, die sich die zeitaufwendige und unbezahlte Arbeit aufhalsen wollen. Das ist ein Grund, dass von den rund 300 gewählten Amtsträgern nur zehn Prozent Frauen sind und der Frauenanteil der Oberbürgermeister regelrecht eingebrochen ist, nämlich von 17,7 Prozent im Jahr 2008 auf 8,2 Prozent 2017. Ein anderer, entscheidender könnte sein, dass sie sich rechtsradikalen Übergriffen noch ausgesetzter empfinden als Männer.
Wie reagiert die Politik? Bloß keine Schießeisen in den Rathäusern! So viel Selbstverteidigung will weder die Chefin der Bundeswehr, Annegret Kramp-Karrenbauer, noch Justizministerin Christine Lambrecht, obwohl beide auf mehr Schutz von Kommunalpolitikern dringen und über eine Meldepflicht in diesen Fällen nachdenken. Auch ein neuer Straftatbestand, „Politiker-Stalking“, ist im Gespräch. Umfassender Personenschutz dürfte kaum realisierbar sein.
Nachdenklich sollte aber stimmen, dass das Phänomen zunehmender Hass- und Gewaltkriminalität zuerst in den realen Schulen zu beobachten war. Nun ist sie auch in der „Schule der Demokratie“ angekommen.
Kommentare 6
Eine Basis Schule der Demokratie, was für eine klasse Idee für die Bundesregierung. Ohne Grundsatzreformen in der Umwelt-, Sozial-, Kultur- und Bildungspolitik werden sich wohl kaum die zunehmenden gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Bevölkerung der Bundesrepublik kontrollieren lassen.
Die öffentlich rechtlichen wie die privaten Medien bieten seit Jahrzehnten ein umfangreiches Material an Reportagen und Dokumentationen an, dass in ihren Mediatheken auch den Mitgliedern der Bundesregierung zur freien Verfügung steht.
Es muss also nichts neu erfunden werden, es gibt genügend sozialpolitische Beispiele auf dem Europäischen Kontinent oder innerhalb der Europäischen Union, welche sehr erfolgreichen demokratischen Möglichkeiten nicht nur theoretisch bestehen, sondern auch in der praktischen Anwendung funktionieren.
Ein Blick in die innenpolitischen Nachrichten und ihre Folgen in der Umwelt-, Sozial-, Arbeit-, Kultur- und Bildungspolitik allein der vergangenen 30 Jahre genügt schon, um sich selber ein Bild davon zu machen, warum es auch dem gutmütigsten Bürger irgendwann reicht. Es liegt also an der Bundesregierung sich von ihren alten Verhaltensmustern des 20. Jahrhundert zu lösen.
Kramp-Karrenbauer und Lambrecht argumentieren sicherheitstechnisch aus der Luxusblase heraus: Die hochrangigen Acts des Politikbetriebs genießen allesamt Steuermittel-finanzierten Personenschutz. Auch wenn ich die im Artikel anklingende Gleichsetzung von Mittelbezieher(innen), die ab und an auf dem Amt ausflippen (mitunter übrigens mit – für sie – letalen Folgen) oder anderen vom Behördenmoloch drangsalierten Bürger(innen) mit dem rechten Mob, der sich derzeit Bahn bricht für nicht angebracht halte, ist doch klar:
Was den rechten Alltagsterror anbelangt, sind wir zwischenzeitlich in den Modus »Rechte Wutwelle 2.0« übergeswitcht. Strategisch muß man über die Motive ebenfalls nicht rätseln: dass es um Zermürbung (und im weiteren Fortschritt auch um eine rechte Machtübernahme) geht, liegt auf der Hand. Springender Punkt allerdings ist: Wenn der politische Wille vorhanden wäre, wäre es auch jetzt noch – in erwähnter Phase 2.0, nach dem Mord an Walter Lübcke – möglich, den entgrenzten rechten Mob halbwegs wieder in die Spur zu bringen. Sicher nicht von heute auf morgen, allerdings in einer vergleichsweise übersichtlichen Zeitspanne von etwa einem bis zwei Jahren.
Dass dies nicht der Fall ist (und, von der Linkspartei einmal abgesehen, politisch auch nicht anvisiert wird), hat mehrere Gründe. Einer ist sicher das klammheimlich-offene Fraternisieren von Teilen der Union mit dem rechten Mob. Ein weiterer wesentlicher sind die rechtsaffinen Grauzonen von Exekutive und Justiz. Die waren schon immer gegeben, haben aber – wie einschlägige Skandale der letzten beiden Jahre zeigen – mittlerweile eine neue Qualität angenommen. Hinzu kommt ein Inlandsgeheimdienst (VS), der schon aus Tradition rechts tickt und unter seinem letzten Chef Maaßen noch stärker in die Position des »Staats im Staat« gerückt ist.
Fazit leider wohl: Weimar reloated. Die Demokraten werden der rechten Gespenster nicht mehr Herr. Und letztere schlagen, wie bereits vor 1933, die Demokratie mit ihren eigenen Mitteln.
"Es stimmt auch nicht, dass er immer ehrenamtlich tätig ist,"
Das steht explizit auch nicht im Text, aber das "ehrenamtliche... zu besetzen" ist wohl beim Kürzen werggefallen. Gemessen an den vielen kleinen Gemeinden in Deutschland sind es eben doch ziemlich viele. Ich würde aber dennoch auf meiner These beharren, dass es eine Strategie der Rechten ist, die Demokratie von unten aufzurollen und auszuhöhlen.
"Es stimmt auch nicht, dass er immer ehrenamtlich tätig ist,"
Das steht explizit auch nicht im Text, aber das "ehrenamtliche... zu besetzen" ist wohl beim Kürzen werggefallen. Gemessen an den vielen kleinen Gemeinden in Deutschland sind es eben doch ziemlich viele. Ich würde aber dennoch auf meiner These beharren, dass es eine Strategie der Rechten ist, die Demokratie von unten aufzurollen und auszuhöhlen.
lt. frühnachrichten dlf gibt in kerpen ein weiterer bgm in nrw wg. ständiger, massiver drohungen (wg. je zu "freundlicher" flüchtlings- u. kohle-einstellung bzw. -politik soweit lokal) auf, geht nicht mehr in die wiederwahl.
selbst wenn hinter solchen angaben gelegentlich auch andere bzw. weitere gründe als bedrohungen stehen mögen, vertieft dergleichen die spaltung, verrohung und mithin destabilisierung der gesellschaft, indem es der gewalt eine wirksamkeit zuschreibt, die ansonsten rar geworden ist, - wenn es sie überhaupt je nicht nur als anschein bzw. irrtum gegeben hat.
es ist krieg, aber keiner geht hin.
das leere feld ist DER traum aller politstrategen am rand und jenseits des demokratischen.
die marketender der längst verdorbenen weine in noch so neuen schläuchen, der mundwässerchen und sonstiger goodies aus den ewigen kellern vergangener jahrhunderte können die leere nicht füllen, sie ziehen niemanden mehr an, dafür wurden zu oft die etiketten gefälscht.
frohe weiterfahrt in die unterwerfung!
die öffentlich präsenten sturm-abteilungen (SA) gibts auch als :
société anonyme S.A. , geheim-bünde unerkannten, aber gefühlten ausmaßes.
die glaubwürdige an-drohung von gewalt macht schon effekt.
gelegentliche aktualisierungen verschaffen durchschlagende wirk-sam-keit.
so geht terrorisierung.
Ja, es ist ein Kennzeichen der Rechten zu demoralisieren und zwar von unten. Oben machen Das andere angebliche Demokraten.
Heute im Radio habe ich vernommen, daß in einer Gemeinde im Westteil Deutschlands die Kinder und die Ehefrau kriminalisiert wurden. Der Familienvater stellt sich nicht mehr zur Wahl bzw. arbeitet nicht mehr auf dieser Ebene.
Da es Aussteigerprogramme gibt, ist in diesem Land ein Personenschutz nötig. Das sind die demokratisch gewählten Parlamentarier den anderen Demokraten in der unteren Pyramide schuldig.
Falls wieder nur zugesehen wird- wie im Fall von Herrn Lübke-und dann reagiert, weil die geleugnete Wirklichkeit mit einem Mord nicht mehr geleugnete Realität wird, dann geht Das nur jetzt.
Wer hat Seehofer gehindert eher zu handeln?So weit denkt dieser Minister nicht, weil er , nehme ich an, von auch Speichelleckern umgeben ist, Die dann ganz anders als Staatssekretär oder was auch immer handeln.
Droht die Reputation Deutschlands flöten zu gehen, wird gehandelt- jetzt ebend das Verbot der Gewaltrechten für das Grobe.
Mein Eindruck war der, daß die Reputation Seehofer über Alles geht. Es dauert mich, dass Herr Lübke ermordet wurde und diesem Mord nach den anderen Morden ein Verbot zeitigte. Von mir aus muss der Mörder lebenslänglich im Knast bleiben. Für mich hat der das Leben in unserer Gemeinschaft verwirkt.