Mückenlobby gesucht

Sachbuch Kein Leben ohne Brummen und Summen, lehrt uns ein neues Buch über das Insektensterben
Ausgabe 40/2018
Von sechs Millionen Insektenarten auf der Erde ist erst eine Million beschrieben. Die übrigen sterben aus, bevor wir sie wahrgenommen haben
Von sechs Millionen Insektenarten auf der Erde ist erst eine Million beschrieben. Die übrigen sterben aus, bevor wir sie wahrgenommen haben

Foto: Sergei Supinski/AFP/Getty Images

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass nach einer Fahrt über die Autobahn oder ins Grüne viel weniger Insekten an Ihrer Frontscheibe kleben als noch vor 20 oder 30 Jahren? Dass Sie, wenn Sie sich auf einer Wiese niederlassen, wenn überhaupt, immer die gleichen Schmetterlingsarten sehen? Dass es im Frühjahr in den blühenden Apfel- und Kirschbäumen viel weniger summt als früher?

Nicht erst seit dem offensichtlichen Bienensterben wissen wir, dass sich etwas verändert hat, zunächst schleichend, dann immer schneller. Alle Insekten befinden sich auf dem Rückzug, die nachtaktiven Geschöpfe, die in der Lichtverschmutzung verenden, ebenso wie die eher ekel- oder furchterregenden Spinnen oder Mücken. Von den sechs Millionen Insektenarten auf der Erde ist erst eine Million beschrieben, die übrigen sterben schon aus, bevor wir sie überhaupt wahrgenommen haben. Die 2017 veröffentlichte alarmierende Krefeld-Studie, in deren Rahmen 27 Jahre lang Landschaftsschutzgebiete untersucht wurden, hat offengelegt, dass die Biomasse an Fluginsekten um 75 Prozent zurückgegangen ist, in den Sommerperioden sogar bis zu über 83 Prozent. Die Auflistung liest sich wie eine Bilanz des Schreckens.

Für den an der Zoologischen Staatssammlung München beschäftigten Schmetterlingsexperten Andreas H. Segerer und die Literaturwissenschaftlerin und Naturschützerin Eva Rosenkranz war das der Anlass, ein ungewöhnliches Buch über Das große Insektensterben zu schreiben. Ungewöhnlich, weil es ihnen gelingt, dürre Zahlen und Anschauung, Wissenschaft und Emotion, Expertenwissen und Verständlichkeit zu paaren und ein aktivierendes Bewusstsein dafür zu schaffen, welche Katastrophe sich gerade um uns herum ereignet.

Weltbürger für Artenschutz

Insekten, sagen sie, haben erheblich weniger Lobby als die bedrohten Eisbären in der Antarktis, obwohl 80 Prozent aller Blütenpflanzen auf Bestäubung angewiesen sind und drei Viertel aller Nutzpflanzen. Die Honigbiene stellt nach dem Schwein und dem Rind die drittgrößte Nutztierpopulation in Deutschland dar, die 210 Millionen Jahre alten Schmetterlinge repräsentieren die viertgrößte Tierart der Welt, jährlich werden 700 neue Arten entdeckt, doch viel mehr verschwinden. Insekten übernehmen nicht nur die Bestäubung, sie regulieren den natürlichen Energie- und Nahrungsstoffwechsel, betätigen sich als Landschaftsgärtner und Naturstoffproduzenten, bekämpfen Schädlinge und vieles mehr. Weltweit 153 Milliarden Euro „verdienen“ sie allein als Bestäuber.

Die Gründe für das massenhafte Aussterben sind bekannt und reichen von der industriellen Landwirtschaft mit ihren Pestiziden über die Fragmentierung der Wälder bis hin zu Flächenfraß und Bodenversiegelung: 104 Hektar guten Bodens verschwinden in Deutschland tagtäglich unter Beton, mehr als zwei Drittel des Bodensees. Die Insekten können nicht mehr wandern, sich genetisch austauschen, sie finden keine Blütenpflanzen als Nahrungsquellen mehr und keinen Unterschlupf, mit allen Folgen für andere Arten wie etwa Singvögel, die wie wir auf Insekten angewiesen sind.

Doch was allein schon aus ökonomischem Kalkül, das diese Gesellschaft ja am besten versteht, überzeugen sollte, wird in diesem reich bebilderten und viele überraschende entomologische Kenntnisse vermittelnden Buch durch die kleinen eingeschobenen Beschreibungen des „verlorenen Paradieses“ sinnfällig: durch die Fassungslosigkeit des Kindes, dessen Biotop in den siebziger Jahren in der niederbayrischen Provinz unterm Asphalt verschwindet, die Begeisterung für längst verschwundene Schmetterlinge und Falter und die Lautlosigkeit eines Sommernachmittags. Der von Eva Rosenkranz verantwortete Teil, in dem es um Alternativen, die Kraft des grünen Daumens und die „Weltbürgerbewegung für Artenschutz“ geht, reißt aus aufkommender Hoffnungslosigkeit und Zynismus. Der Schutz der Natur, so das Credo der Autoren, sei kein Selbstzweck, sondern diene unmittelbar der Menschheit, die Teil davon ist. Und derzeit entdecken sogar Lebensmittelkonzerne ihre Liebe zu den kleinen Flugtieren.

Info

Das große Insektensterben. Was es bedeutet und was wir jetzt tun müssen, Andreas H. Segerer/Eva Rosenkranz, Oekom Verlag 2018, 204 S., 20 €

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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