Muskelschwund

Interregnum Die Koalition erträgt sich weiter, um für 2009 alle Optionen offen zu halten

Das Bild der Woche lieferte Sigmar Gabriel am Rande des Energiegipfels. "Reibung erzeugt Wärme", ließ er vernehmen, und "Muskeln wachsen mit der Bewegung". Zwar zitierte sich der Bundesumweltminister damit selbst und spielte wieder einmal auf sein spannungsvolles Verhältnis zu Wirtschaftsminister Glos an, doch ein wenig dürfte er dabei auch an den Zustand der großen Koalition gedacht haben. Denn was die an einem einzigen Wochenende an "Reibung" erzeugt, treibt deren Energiebilanz in schwindelnde Höhen. Dumm für sie nur, dass die Reibungswärme derzeit nicht ins nationale Kraftwerk eingespeist, sondern im Eigenverbrauch verzehrt wird und die rhetorischen Bewegungen den politischen Muskelschwund beschleunigen.

Dass die "große" Gesundheitsreform wieder einmal Anlass für den Schlagabtausch lieferte, verwundert kaum. Wie schon die berüchtigten Eckpunkte in nächtlicher Verschwörerrunde ausgebrütet, kann sich schon am folgenden Tag keiner mehr richtig erinnern, was eigentlich beschlossen wurde. Acht Euro Sockelbeitrag für alle? Oder nur als Ausnahmeprämie? Einstieg in ein "prämienfinanziertes Gesundheitssystem" (Roland Koch, CDU) oder die "Grundidee der Bürgerversicherung" (Hubertus Heil, SPD)? Die Verwirrung ist so komplett, dass die ganze Chose übers Wochenende in den Hintergrund geriet und gänzlich von Klimaprognosen ersetzt wurde.

Es gab eine Zeit, in der die Kanzlerin in spe ihre Politik vom "Ende her" beurteilt wissen wollte. Nach einem Jahr im Amt muss sie feststellen: So viel Ende war nie! Bevor ihre politischen Experimente überhaupt in die heiße Phase kommen, müssen sie schon wieder abgebrochen werden, weil die Versuchsanordnung mangelhaft ist, ihr die nötigen Assistenten bei der Durchführung fehlen oder weil sich bestimmte Projekte überhaupt einer experimentellen Zurichtung entziehen.

Dabei wirkt sich das, was ihr General Roland Pofalla als "wichtigsten Unterschied" zwischen Union und SPD sieht - nämlich die Präsenz von elf Unions-Ministerpräsidenten - in der Realität für Angela Merkel eher nachteilig aus. Die Schwäche der Sozialdemokraten, deren noch verbliebene Länderchefs mit schwierigen Koalitionsverhandlungen befasst sind oder sich - von Beck als Promotor abgesehen - selten in die Bundespolitik einmischen, ist für den SPD-Vorsitzenden derzeit ein Glücksfall. Aus den eigenen Reihen hat er nur mit wenig Störfeuer zu rechnen und wo es einmal auftritt, richtet er es geschickt auf den Koalitionspartner, um diesen dann wiederum in Schutz zu nehmen. Struck als Provokateur, Beck als Schlichter, wenn die Kanzlerin "Respekt" abfordert. Respektvoll waren schon manche Meuchelmörder unterwegs.

Die sitzen allerdings momentan doch eher in den Ländern und halten mehr oder weniger still, weil mindestens drei ihrer Mächtigsten um ihre Wiederwahl fürchten. Das strategische Kalkül der CDU-Ministerpräsidenten ist komplizierter, weil ihr Erfolg von der Abgrenzung von der großen Koalition und deren Misserfolgen abhängt, und sie gleichzeitig auf Berlin eingeschworen bleiben müssen, weil der Untergang der großen Koalition auch sie selbst mitreißen könnte. Es ist auffällig, dass sich die Länderfürsten in dieser Runde der Gesundheitsreform auffällig zurückhalten und ihre Sozialminister und -ministerinnen zum Nörgeln vorschicken.

Indes sollte das sozialdemokratische Maulheldentum nicht überbewertet werden, dem Koalitionsfrieden werden reichlich Notopfer gebracht. Ein von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommener Praxistest bestand etwa darin, dass die Fraktionsspitze kürzlich 70 sozialdemokratische Abgeordnete nötigte, ihre Unterschrift unter einem Antrag zurückzuziehen, der Ende September in den Bundestag eingebracht werden sollte. Gemeinsam mit Vertretern der Grünen und der Linkspartei wollten sie für die Etablierung eines parlamentarischen Beratungsgremiums werben, nachdem Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU) sich geweigert hatte, die nun unter "Deutscher Ethikrat" firmierende Konkurrenzeinrichtung für Parlamentarier zu öffnen und demokratisch zu legitimieren.

Offenbar richtet sich die große Koalition auf ein Aussitzen in einer Art "Interregnum" ein. Ein Indiz dafür ist, dass der einflussreiche CDU-Wirtschaftsrat schon heute nicht mehr damit rechnet, dass eine Gesundheitsreform noch in dieser Legislaturperiode das Parlament passiert bzw. in Kraft tritt. Die von verschiedenen Seiten geäußerten Verfassungsbedenken und angekündigten Klagen sprechen für diese Skepsis. Deshalb versucht die Koalition mittlerweile ihr "Meisterstück", den Gesundheitsfonds, aus der ideologischen Verbunkerung zu holen und ihn als rein logistisches "Instrument, weder gut noch schlecht", so SPD-General Heil, herunterzuspielen und für alle Möglichkeiten nach der Bundestagswahl 2009 offen zu halten. Die Verwirrung über den Charakter der jetzt ausgehandelten Beschlüsse hat durchaus einen realen Kern.

Ähnliches lässt sich auch an der Energiefront feststellen: Während die Kanzlerin am vereinbarten Atomkonsens festhält, pumpt Schavans Ministerium viel Geld in die "Erhaltung und Erweiterung" des kerntechnischen Know-how: Für alle späteren Eventualitäten. Mag sich die Energiewirtschaft mit Gabriel um Restlaufzeiten von Schrottmeilern und mit Glos um Strompreise zoffen: Die Optionen für den atomaren Wiedereinstieg liegen in der Wissenschaft, und Schavan, in dieser Materie nicht gerade beleckt, hält den Fuß in der Tür.

Den "atemraubenden Zerfallsprozess", den die FDP in überstürzter Vorfreude der großen Koalition dieser Tage bescheinigte, werden wir wohl kaum erleben. Wenn man Umfragewerten aber überhaupt eine Aussagekraft zumessen mag, dann muss sich die heutige Koalition freuen, wenn sie sich 2009 noch "groß" nennen darf und über 50 Prozent in die Waagschale werfen kann. In Frage steht, wer das von ihr hinterlassene politische Vakuum dann beerbt, wer sich überhaupt noch als regierungsfähig erweist und "offene Optionen" füllen kann.


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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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