Musterländle

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Mit der niedrigsten Arbeitslosenquote der Republik (5,1 Prozent) und der großmäuligen Behauptung alles zu können (außer hochdeutsch) begeht das Land Baden-Württemberg am 25. April sein 50-jähriges Bestehen. Dass Stuttgart dafür nur schwäbisch schwätzende Nichtdeutsche ins Rennen schickt, feiert eigene Weltoffenheit und geglückte Assimilation (und zeigt, nebenbei, den Badenern mal wieder die schwäbische Karte).

Doch 50 Jahre "Musterländle" bergen auch noch eine ganz andere Geschichte, die von feudal anmutender Selbstherrlichkeit und Untertanentrotz, von Regierungswillkür und zivilem Ungehorsam handelt. Und von Skandalen. Immerhin hält Baden-Württemberg einen eher traurigen Rekord: Es wurde 25 Jahre (1966-1991) von zwei umstrittenen Ministerpräsidenten regiert, die nicht aus Einsicht, sondern erst nach heftigem Drängen ihre Stellung räumten.

An den "furchtbaren Juristen" Hans Filbinger, volkstümelnd und autoritär zugleich, erinnert man sich im Land nur ungern. Doch der einstige SS-Marinerichter steht mit seiner Person wie kaum ein anderer für die beklemmende historische Kontinuität, die das Jahr 1933 über das Jahr 1945 hinaus fortschrieb.

Der andere, Lothar Späth, der zwar keinen Nazi-, sondern einen Korruptionsschatten auf das Land warf, übte - übrigens ganz ohne Schuldbewusstsein - ein, was in der Berliner Republik zum politischen Alltagsgeschäft gehört: wenig Distanz zu den Wirtschaftsbossen zu pflegen.

In die Filbinger-Ära (1966-1978) fiel übrigens ein Ereignis, das für das kommende Jahrzehnt Signalwirkung haben sollte: Am 29. Oktober 1968 ging - von Unbedenklichkeitserklärungen der Betreiber und der Landesregierung flankiert - im nordbadischen Obrigheim das erste deutsche Kernkraftwerk ans Netz. Ein paar Jahre später war es die aufsässigere Wyhler Landbevölkerung, die sich von Filbingers Atomstrom und seiner Drohung, im Land gingen die Lichter aus, nicht blenden lassen wollte und - einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik - den Bau eines Atommeilers verhinderte. Die großen und kleinen Widerstände - wer erinnert sich beispielsweise noch an die Leute von Boxberg, die sich gegen eine Teststrecke des Autoriesen Daimler-Benz wehrten? - scheinen in der "Erfolgsgeschichte" Baden-Württembergs nicht auf; oder höchstens dort, wo ihnen wie in der Atomenergiepolitik oder bei der Stationierung der Mittelstreckenraketen die Geschichte Gerechtigkeit widerfahren lässt.

Vielleicht bedurfte es dieses aufgeregten siebziger Jahrzehnts, um nicht nur einen Nazi-Richter vom Präsidentenstuhl zu fegen, sondern auch gegen die Dumpfheit in den Schulen und Hochschulen - meine Generation ist von anderthalb Jahrzehnten konservativer Hahnscher Bildungspolitik geprägt, die "Kopfnoten" zum Gütesiegel erklärte und in den Schulatlanten noch 1974 das Gebiet der DDR als "z.Zt. unter sowjetischer Verwaltung" auswies - aufzubegehren. Die Studentenbewegung der späten Sechziger ("Brecht dem Hahn die Gräten - alle Macht den Räten"), die Oberschülerbewegung in den frühen Siebzigern ("Gebt dem Hahn ein Huhn, dann hat er was zu tun"): Vielleicht waren es ja wirklich "idealistische Bewegungen", wie unser Autor Michael Buselmeier - damals Heidelberger Aktivist am Rande des SDS - kürzlich zu Protokoll gab; aber "Kinderrevolutionen"?

Er könne bis heute nicht verstehen, weshalb sich erwachsene berufstätige Menschen von Leuten ohne abgeschlossene Berufsausbildung so ins Bockshorn jagen ließen, erklärte der mittlerweile betagte Heidelberger OB Zundel (1969 für die Räumung der besetzten Uni-Institute verantwortlich). "Erscht mol schaffe, dann prodeschtiere", wurde man damals von der Straße gewiesen. Später fand sich das "Arbeitstümelnde" auch in der Neuen Linken. Die grüne Partei, Produkt all der "Bewegungen" im Ländle, hat dieses Amalgam von Wider- und Bodenständigkeit aufgenommen und den spezifischen grünen "Realismus", der im Stuttgarter Landtag herrscht, hervorgetrieben.

In diesem Landtag saßen 1952, als die Verfassungsgebende Versammlung tagte, übrigens noch acht Frauen (6,6 Prozent). 1968 waren es gerade noch zwei (1,6 Prozent), 1969 blieb eine einzige, Hanne Landgraf (SPD), übrig. Es war, als ob sich im nachhinein der Satz eines Abgeordneten im Streit um den Namen des Südwest-Staates bestätigen sollte: "Wenn man ein Kavalier ist", gab der den Württembergern zu bedenken, "und eine so schöne Dame wie Baden geheiratet hat, dann muss man dieser auch etwas entgegenkommen - wenigstens in der ersten Zeit der Ehe."

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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