Nachdenken über das gute Leben

Jeder nach seinen Fähigkeiten Hohe Auszeichnung für die amerikanische Philosophin Martha C. Nussbaum

Der "Fähigkeiten"-Ansatz, "capabilities approach", erinnert an Karl Marx: Jeder nach seinen Fähigkeiten, proklamierte schon er, im Kommunismus an den Bedürfnissen, im Sozialismus an den Leistungen ausgerichtet. Und ganz so weit von Marx ist die in Chicago lehrende Martha C. Nussbaum, die demnächst mit dem vom Berliner Wissenschaftszentrum zum zweiten Mal verliehenen hoch dotierten A. SK Social Science Award ausgezeichnet wird, auch nicht entfernt. Wenn sie von Aristoteles redet - und dieser katholische Urschleim ist für eine feministische Philosophin nicht selbstverständlich - führt sie auch Marxens Philosophische Schriften von 1844 im Munde. Vom "wahrhaft menschlichen Funktionieren" ist darin die Rede und den Bedingungen, die gutes menschliches Leben ermöglichen. An diesen beiden orientiert sich von Nobelpreisträger Amartya Sen und Martha C. Nussbaum entwickelte Maßstab, nach dem die Vereinten Nationen heute die Lebensqualität der Völker messen. Nicht das ökonomisch ermittelte Pro-Kopf-Einkommen gibt realistisch Auskunft über den Wohlstand einer Nation, sondern die Möglichkeiten, die jeder Bürger, jede Bürgerin eines Landes hat, sich wirtschaftlich und politisch zu betätigen und ihre kreativen Potenziale zu entfalten.

Das umfasst mehr als nur die Lebensmittel, um zu überleben. Körperliche Gesundheit und Unversehrtheit gehören ebenso dazu wie eine Erziehung, die in die Lage versetzt zu schreiben und zu lesen und am religiösen und kulturellen Leben teilzunehmen. Gefördert werden muss das Vermögen, menschliche Beziehungen einzugehen und Zugehörigkeitsgefühle zu entwickeln. In der Sorge um sich und andere soll der Mensch sein Leben planen und führen können. Ein "gutes Leben" ist also mehr als nur materieller Wohlstand, es misst sich an den Handlungsspielräumen und Freiheitsrechten eines Individuums.

Dass eine Philosophin aus der amerikanischen Mittelschicht überhaupt über ihren akademischen Elfenbeinturm hinaus vorstößt in die Gefilden der Realpolitik, ist schon ungewöhnlich genug. Aber Martha C. Nussbaum befasste sich nicht nur theoretisch mit Entwicklungspolitik, sie verließ auch ihren Kontinent, um in Indien vor Ort die realen Lebensbedingungen insbesondere der indischen Frauen zu studieren. Intellektuelle Neugier trieb sie dorthin und die zeittypische feministische Skepsis gegenüber den sich universell gebenden abendländischen Werten, die blind sind gegenüber anderen Kulturen und Traditionen. In Indien, erklärte Nussbaum in einem Interview, habe sie allerdings gelernt, dass Werte wie etwa das Recht auf Eigentum, zu dem Linke eher auf Abstand gehen, von den dort lebenden Frauen durchaus als wesentlich für ihr Leben geschätzt werden. Für die indischen Frauen seien Eigentumsrechte sogar wichtiger als das Recht auf Bildung, soweit erstere das Verfügungsrecht über den Körper einschließen.

Nussbaums Moraltheorie, darauf macht die in Wien lehrende Philosophin Herlinde Pauer-Studer, die auch das Vorwort zu Nussbaums in Deutschland bekanntestem Werk Gerechtigkeit oder Das gute Leben geschrieben hat, aufmerksam, steht in dieser Zerreißprobe zwischen Partikularismus und Universalismus. Obwohl Nussbaum, durchaus Vertreterin des amerikanischen Liberalismus, an allgemeinen Freiheits- und Gleichheitsrechten festhält, verlöre, so Pauer-Studer, ihre Moraltheorie dort an Gewicht, wo sie das universalistische Urteil zugunsten der besonderen Umstände relativiere. Nussbaum ersetze die "Metrik der Gleicheit" zugunsten einer "Metrik der Fähigkeiten", die sich an den Bedürfnissen orientiert und sich sensibel gegenüber kulturellen Differenzen zeige; dadurch geriete aber die global geltende Ethik wieder ins Abseits.

Nussbaum selbst weiß um dieses Spannungsverhältnis, und ihre Neigung gegen den paternalistisch-chauvinistischen Blick auf die Welt resultiert sicher auch aus ihren Erfahrungen mit dem übersteigerten amerikanischen Identitätsgefühl. In einem Aufsehen erregenden Essay in der Boston Review nahm sie Stellung gegen ihren Kollegen Richard Rorty, der von der amerikanischen Linken mehr Patriotismus eingefordert hatte. Diese Debatte ist in dem Sammelband For Love of Country festgehalten.

Wer Nussbaums an Literatur orientierten und Emotionen interessierten Zugang zur Philosophie verstehen will, sollte sich das aufschlussreiche Gespräch in der Reihe Conversations with History anhören. Dort erzählt Nussbaum von ihrem Studium der klassischen Philologie und ihrer Zeit als Schauspielerin. Die Bühne habe sie verlassen, weil sie die Stücke nicht nur habe nachspielen wollen, sondern auch darüber nachdenken (eben dies hatte, nebenbei bemerkt, die verstorbene Herausgeberin des Freitag, Gerburg Treusch-Dieter, vom Theater zur Wissenschaft gebracht). Dieses Nachdenken über "gutes Leben" hob Martha C. Nussbaum sogar auf die politische Bühne. Davon wird sie wohl auch anlässlich der Preisverleihung am 17. Februar in Berlin erzählen.

Das Interview ist unter http://globetrotter.berkeley.edu/people6/Nussbaum/nussbaum-con6.html oder http://de.youtube.com/watch?v=Qy3YTzYjut4 abrufbar

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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