Nötigung

Ethikrat Organe im optimierten Zulieferbetrieb

Wer einmal das Pech gehabt haben sollte, in Österreich zu verunglücken und in einem dortigen Krankenhaus für hirntot erklärt zu werden, dem konnte es bis vor einigen Jahren noch passieren, dass ihm ohne entsprechendes Einverständnis Organe entnommen wurden. Mittlerweile werden bei ausländischen Patienten immerhin die Angehörigen kontaktiert, doch rein rechtlich gilt nach wie vor die enge Widerspruchsregelung, das heißt, nicht spendewillige Bürger müssen sich registrieren lassen. Ähnliches gilt in Spanien, weshalb diese beiden Länder die höchsten Organspendequoten in Europa aufweisen.

Deutschland liegt im europäischen Vergleich eher in den hinteren Rängen, gleichzeitig ist der hiesige Organbedarf hoch. Da ein Patient hierzulande vorab entweder ausdrücklich selbst oder posthum (über die Angehörigen) der Organentnahme zustimmen muss, sind dem Spendeaufkommen Grenzen gesetzt, was in den letzten Jahren zu einer immer vehementeren Diskussion über Anreizsysteme geführt hat. In dieser Diskussion hat sich vergangene Woche der Nationale Ethikrat mit einer höchst umstrittenen Stellungnahme positioniert. Er will der hohen passiven Organspendebereitschaft der Bevölkerung, die "nur zu einem Fünftel ausgeschöpft" werde, auf die Sprünge helfen, indem er gleich das gesamte Transplantationsgesetz kippt. Statt positiv einer Organspende zuzustimmen, empfiehlt der Rat, nach einer entsprechenden Aufklärungskampagne jeden Bürger und jede Bürgerin in die Erklärungspflicht für oder wider Organspende zu nehmen. Wer sich nicht erklärt, sei einverstanden. Damit würde die 1997 nach einem langen Diskussionsprozess parlamentarisch abgesegnete Zustimmungsregelung en passant in eine mehr oder weniger enge Widerspruchsregelung verkehrt.

Nun hat es in den letzten zehn Jahren an Aufklärungskampagnen pro Organspende nicht gemangelt, und die Spendezahlen sind seither durchaus auch gestiegen. Allerdings nicht in gleichem Maße wie der Bedarf. Über diese Diskrepanz legt der Ethikrat keine Rechenschaft ab. Weder diskutiert er über die gesundheitspolitischen Gründe, warum immer mehr Menschen auf Organspenden angewiesen sind - gerade haben sich die Deutschen als europäische "Schwergewichte" geoutet -, noch über das Transplantationsgeschehen selbst, über allzu transplantierfreudige Chirurgen, die mangelnde Mitarbeit einmal transplantierter Patienten oder über die brachliegende Forschung nach medizinischen Alternativen. Dem Rat geht es dezidiert nur um die Frage, "wie der Mangel an postmortalen Organspenden überwunden" werden kann, als ob es sich um einen Zulieferbetrieb der Autoindustrie handele. Gleich drei Mal wird betont, es sei Ziel, "möglichst viele Bürger zu einer ausdrücklichen Zustimmung zu bewegen". Flankierend werden den beteiligten Kliniken finanzielle Anreize in Aussicht gestellt, damit sie verstärkt potenzielle Organe melden.

Verfassungsrechtliche Bedenken, Menschen überhaupt in eine Erklärungspflicht zu nehmen oder sie andernfalls zu Organspendern zu machen, wischt der Ethikrat mit dem Hinweis weg, der Staat sei verpflichtet, den Schutz des Lebens zu garantieren und das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen und das Recht auf körperliche Unversehrtheit habe gegenüber seiner Pflicht, den "Tod auf der Warteliste" zu verhindern, zurückzustehen. "Die Verweigerung der Organspende", heißt es unmissverständlich, könne "nicht voll und ganz in das Belieben des einzelnen gestellt werden". Aufschlussreich sind auch die argumentativen Pirouetten, den unterlassenen Widerspruch in eine Zustimmung umzudeuten. Das wirkt etwa so, als ob eine Wahlenthaltung als Stimme für eine bestimmte Partei verbucht werden soll.

Offenbar scheint es den Räten nicht aufzufallen, dass das im Falle der Organspende offenbar problemlos einzuschränkende Selbstbestimmungsrecht in anderen Zusammenhängen als unantastbar erklärt wird. In seiner Stellungnahme zu Patientenverfügung und Sterbehilfe jedenfalls bringt er das Selbstbestimmungsrecht dezidiert gegen die Kritiker uneingeschränkter Patientenautonomie in Stellung. Was zunächst als Widerspruch ins Auge springt, folgt aber durchaus einer inneren Logik: In beiden Fällen geht es um die Nötigung einer sozialverträglichen Entscheidung, die der Gesellschaft Entlastung verspricht. Was als "Leidensminderung" auf der einen oder "Leben schenken" auf der anderen Seite daher kommt, ist die immer aggressiver verfolgte Optimierung von Lebensführung und Körperressourcen.


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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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