Wo viel Geld ist, da ist viel Gier. Und im deutschen Gesundheitssystem zirkuliert richtig viel Geld. Um rund 200 Milliarden Euro wird jährlich konkurriert, und die Tendenz ist steigend. Da ist es kein Wunder, dass mancher Akteur nach Wegen sucht, sich möglichst viel vom großen Kuchen zu sichern. Dabei geht es gar nicht nur um das gewöhnliche „Schmieren“ von Ärzten oder „Zuwendungen“ an Patientenorganisationen, sondern um eindeutig kriminelle Handlungen.
Die Staatsanwaltschaft Köln wirft beispielsweise einem Arzt vor, sich mittels Scheinfirmen, erfundenen Angestellten, gefälschten Krankschreibungen und OP-Befunden bereichert zu haben. Apotheken wiederum rechnen in Kooperation mit Ärzten Rezepte ab, für die gar keine Medikamente über die Ladentheke gegangen sind. Arzneirezepte fungieren dabei wie Barschecks, die von den Krankenkassen auf Treu und Glauben eingelöst werden. Auf diese Weise versanden, so Transparency Deutschland, bis zu acht Prozent der 35 Milliarden Euro, die die Kassen jährlich für Arzneimittel ausgeben.
Mittel abschöpfen
Normalerweise sind es eigens bei den Kassen angestellte Mitarbeiter, die in Zusammenarbeit mit den Staatsanwaltschaften nach solchem Fehlverhalten fahnden und es aufdecken. Doch diese seit 2003 verbindlich einzurichtenden Stellen zur Betrugsbekämpfung sind je nach Kasse personell sehr unterschiedlich ausgestattet und verfolgen insbesondere den Missbrauch von Leistungserbringern – also niedergelassenen Ärzten, Kliniken, Apothekern oder Therapeuten – nicht unbedingt konsequent und wenn, kommt der Fall häufig gar nicht vor Gericht.
Was aber bislang eher als strukturell bedingte Unterlassung gehandelt wurde, könnte auch System haben. Denn nach dem spektakulären Interview des Chefs der Technikerkasse, Jens Baas, weiß nun die ganze Republik, dass einige Kassen selbst eine gewisse kriminelle Energie entwickeln, wenn es darum geht, zusätzliche Mittel aus dem Gesundheitsfonds abzuschöpfen. Baas berichtete freimütig, dass die Krankenkassen Ärzte dazu animieren, ihre Diagnosen zu „optimieren“, das heißt so zu codieren, dass ein Patient möglichst krank erscheint.
Das klingt zunächst paradox, weil die Kassen bislang um besonders finanzkräftige, junge und gesunde Versicherte buhlten. Doch mit der Einführung des Risikostrukturausgleichs, der Wettbewerbsnachteile von Krankenkassen mit besonders vielen älteren und kränkeren Patienten – das sind in der Regel die regionalen Allgemeinen Ortskrankenkassen – ausgleichen sollte, hat sich die Situation ins Gegenteil verkehrt. Die Kassen sind nun an Patienten interessiert, die auf dem Papier besonders krank erscheinen, für die aber gar nicht so hohe Ausgaben anfallen.
Aus einem beginnenden Diabetes wird mittels Verschlüsselung dann ein chronischer, aus einem depressiv Verstimmten ein schwer depressiver Patient und aus einer mäßig kranken eine alarmierend morbide Republik. Von Interesse sind insbesondere die häufig auftretenden, jährlich festgelegten 80 Volkskrankheiten, für die es extra Mittel aus dem Fonds gibt. Die Ärzte wiederum lassen sich diese „Dienstleistung“ mit Prämien von bis zu 40 Euro pro Patient honorieren, oder sie schließen im Rahmen der Chronikerprogramme speziell vergütete Betreuungsverträge mit den Kassen ab. Kassenmitarbeiter, so wird berichtet, „unterstützen“ die Ärzte sogar gelegentlich bei der optimalen Codierung dieser finanziell lukrativen Diagnosen.
Der Interessenverband kommunaler Krankenhäuser verlangt nun Aufklärung, die Stiftung Patientenschutz hat sogar Strafanzeige gestellt. Doch offenbar sind es nicht nur einzelne Kassen, die durch Diagnosebetrug versuchen, an mehr Geld zu kommen. Die Praxis scheint mittlerweile überall gang und gäbe zu sein, und Baas hat möglicherweise nur deshalb die Flucht nach vorn ergriffen, weil die TK aufgrund ihrer Versichertenstruktur beim Risikostrukturausgleich leer ausgeht.
Das Problem, das hinter der zweifelhaften Diagnoseoptimierung steht, ist indessen ein politisches. Durch mehrere Gesundheitsreformen wurden die Kassen in einen Wettbewerb gezwungen, der offiziell die Verwaltungskosten senken und die Versorgungsqualität erhöhen sollte. Kassenpleiten und Fusionen waren gewollte Effekte bei der „Bereinigung der deutschen Kassenlandschaft“, wie es damals hieß.
Mit der Einführung des Gesundheitsfonds verloren die Kassen aber das Recht, selbst ihre Beiträge festzusetzen. Dies übernimmt nun jährlich der Schätzerkreis. Kommen die Kassen mit dem allgemeinen Beitragssatz nicht aus, müssen sie Zusatzbeiträge erheben, die ausschließlich von den Versicherten zu bezahlen sind. Allgemeine Kostensteigerungen und steigende Ausgaben für den medizinischen Fortschritt bleiben an ihnen hängen.
Im Kampf um Versicherte haben die Kassen ihrerseits ein Interesse daran, möglichst geringe Zusatzbeiträge zu erheben. Und ein Jahr vor den Bundestagswahlen ist die Politik wiederum bestrebt, allgemeine Beitragserhöhungen zu vermeiden, dafür stellt der in dieser Hinsicht sonst wenig empfängliche Finanzminister Schäuble sogar eine milliardenschwere Finanzspritze an den Fonds in Aussicht – angeblich, um die Gesundheitskosten für die Flüchtlinge auszugleichen. Und ein gut gefüllter Fonds weckt Begehrlichkeiten.
Es gibt also durchaus Gründe und Anreize zum Missbrauch, die im Gesundheitssystem selbst begründet sind. Ob dabei nun nach „guten“ oder „schlechten Risiken“ – also besonders gesunden oder besonders kranken Patienten – gefischt wird, ist letztlich egal, beunruhigend ist vielmehr, dass Fehlverhalten fast immer ein kooperatives Geschehen ist. Das ist mit ein Grund dafür, weshalb niemand ernsthaftes Interesse an Aufklärung hat und die Verfolgungsenergie bescheiden bleibt.
Die besonders unter Verdacht stehende AOK hat nun vorgeschlagen, den beim Risikostrukturausgleich berücksichtigten Krankheitskatalog zu erweitern und bei der Berechnung der Kassenzuweisungen noch weitere Strukturdaten zu berücksichtigen. Das mag den RSA etwas gerechter machen, vor Missbrauch schützt es nicht. Merkwürdigerweise ist bislang niemand auf eine ganz einfache Lösung verfallen: Würden alle Patienten quartalsweise eine Leistungsabrechnung erhalten, die auch die an die Krankenkasse übermittelte Diagnose vermerkt, würde vielleicht mancher plötzlich als schwer depressiv Eingestufte aufhorchen. Doch Transparenz, gibt der TK-Chef zu Protokoll, sei „ein Schreckgespenst im Gesundheitssystem“.
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