In diesen Tagen wirbt eine große Berliner Tageszeitung mit einem Klinikführer, der den Patienten einen Weg durch medizinische Angebote, die Stärken und Schwächen der Hauptstadt-Krankenhäuser bahnen soll. Faktoren wie Mitarbeiterführung und -motivation oder gar Pflegequalität wird man in den Erhebungen der "evidenzbasierten Medizin", wie Gesundheitsleistungen mit Gütesiegel heutzutage heißen, vergeblich suchen. Aber genau von diesen "soft skills" hängt es häufig ab, ob ein Patient in einer Einrichtung gut versorgt wird und sich dort - über die medizinische Betreuung hinaus - wohl fühlt.
Man kann das lebenslange Urteil gegen die Krankenschwester Irene B., die zwischen Juni 2005 und Oktober 2006 auf der Kardiologischen Intensivstation der Berliner Charité erwiesenermaßen mindestens fünf schwerkranke Patienten zu Tode brachte, indem sie ihnen eine Überdosis blutdrucksenkender Mittel spritzte, auch als vernichtendes Urteil gegen das Kliniksystem lesen. Ein System, in dem es möglich ist, dass Kollegen dem tödlichen Treiben einer Schwester zusehen, ohne sie darauf anzusprechen. Wo Ärzte keinen Verdacht schöpfen, wenn sich auf ihrer Station plötzliche Todesfälle häufen. Und wo Angehörige auf taube Ohren stoßen, wenn sie Unregelmäßigkeiten bei der Pflege vermuten.
Man habe der Krankenschwester Irene B., die seit 1995 auf der Station arbeitete, absolut vertraut, verteidigten sich die zahlreich aufgerufenen Pflegekräfte und Mediziner im Zeugenstand. Dieses Vertrauen bezog sich darauf, dass sie den pflegerischen Auftrag, Leben unter allen Umständen zu schützen, ernst nahm. Es gab, bekräftigte der Richter sein Urteil, auch keinerlei Bitten seitens der Patienten, ihrem Leben ein Ende zu setzen, sie habe diese Menschen "ohne Auftrag" getötet und sich zur "Herrscherin über Leben und Tod aufgespielt". Was sagt uns das? Hätte es eine Mörderin entlastet, solchen Wünschen gefolgt zu sein, weil in der aktuellen Sterbehilfedebatte der Patientenwille zur Entscheidungsmarke von Leben und Tod geworden ist?
Irene B. war - im Gegensatz zum "Todesengel" von Sonthofen, der nie eine professionelle Distanz entwickelt hatte - nicht überfordert vom Leid, mit dem sie tagtäglich konfrontiert war. Nach 35 Jahren im Beruf war sie den Umgang mit Todkranken gewohnt. Es war in diesem Fall offenbar auch nicht der besondere pflegerische Stress und die Arbeitshetze, denen die Schwester nicht gewachsen war. Aber es fällt auf, dass Prozessbeobachter beklagen, die Verhandlung habe die Motive der Frau nicht eigentlich erhellen können, es sei denn, eine etwas "gestörte" und "narzisstische Persönlichkeit" sei ein hinlänglicher Grund für ihr Tun.
Wer als Patient ein Krankenhaus aufsucht, wird abhängig. Er oder sie verlässt sich darauf, dass ihm kein Schaden zugefügt und alles getan wird, um sein Leben zu erhalten. Es ist das gleiche Vertrauen, das auch die Kollegen unhinterfragt Irene B. entgegengebracht haben. Diese hat, daran ist nicht zu rütteln, das Vertrauen beider Seiten missbraucht, und die Kontrollmechanismen in der Charité haben kläglich versagt. Man könnte das Ganze als kriminellen Einzelfall erledigen, bliebe nicht der Verdacht, dass in der Republik vielleicht noch viel mehr weggesehen und beschwiegen wird. Und dass das auch mit einem gesellschaftlichen Klima zu tun hat, in dem Leben und Würde in eine eigenartige Konkurrenz zueinander geraten sind. Sie habe zum Wohle von Patienten gehandelt, die, so verteidigte sich die Angeklagte, "ihre Würde verloren hatten".
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