Oma – Allein zu Haus

Corona Wir bekommen die Pandemie nicht in den Griff, weil wir uns falsch verhalten? Das stimmt so nicht
Ausgabe 51/2020
In der neoliberalen Präventionsideologie wird immer nur dem Einzelnen die Verantwortung für sein Wohlergehen auferlegt
In der neoliberalen Präventionsideologie wird immer nur dem Einzelnen die Verantwortung für sein Wohlergehen auferlegt

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Holen wir die Oma aus dem Heim und laden die Enkelfamilie aus? Oder besuchen wir sie in der zugeteilten Stunde und lassen sie mit Tränen in den Augen zurück? Gehört die Freundin des Sohnes schon zur Familie? Und was ist mit der polnischen Pflegerin, die den Opa betreut, aber auch nicht zum Hausstand gehört? Das Paket, das die Bundesregierung der Bevölkerung kurz vor Weihnachten unter den Baum gelegt hat, war zwar wenig überraschend, steckt aber voller Rätsel. Auch wenn man wenig für das Ereignis übrighaben mag, gilt die Jahresendzeit als Wiederkehr der traditionellen Großfamilie, um den sozialen Kitt auszutesten für den etwaigen Ernstfall.

Nun ist der Ernstfall eingetreten, und ausnahmsweise fühlen sich nicht Virologen, sondern Psychiater und Psychologen mit ihrer Expertise aufgerufen. Resilienz ist das Zauberwort, das die Ausnahmesituation zu bewältigen helfen soll. Aus der Situation das Beste machen, positiv denken, durchhalten, so die kriegsmetaphorischen Verlautbarungen, die an ungute historische Weihnachtsereignisse an der Heimatfront erinnern. Ob die kaum zu überprüfenden Kontaktverbote eingehalten werden und die Vermeidungsstrategie aufgeht, wird sich Mitte Januar herausstellen. Falls es nicht klappen sollte, sind die Schuldigen schon dingfest gemacht: Wir alle, die wir die Oma nicht im Heim gelassen oder einmal zu viel die Freundin getroffen haben.

Das passt in die neoliberale Präventionsideologie, die immer nur dem Einzelnen die Verantwortung für sein Wohlergehen auferlegt und die strukturellen Rahmenbedingungen wie krank machende Arbeits- und Wohnverhältnisse verschweigt. Bekommen wir die Pandemie nicht in den Griff, so das Lamento, haben wir uns falsch verhalten. Aber ist bislang tatsächlich bewiesen, dass das Virus vor allem über private Kontakte verbreitet wird? Wer überprüft in den Betrieben eigentlich die Corona-Bestimmungen, die Situation in Umkleideräumen oder Kantinen? Das winterliche Nebeneinander in Großraumbüros? Entsprechende repräsentative Studien werden zwar immer wieder eingefordert, sind aber nach wie vor Mangelware. Hierfür wäre öffentliches Geld gut investiert.

Dabei säen selbst bekannte Virologen Zweifel, ob ein Lockdown im Winter die gewünschten Effekte haben wird. Die Infektionszahlen seien, so etwa der Virologe und Epidemiologe Klaus Stöhr in der FAZ, für die Jahreszeit und angesichts dieses ausharrungsfähigen Virus schon auf einem niedrigen Level angelangt, sodass es wenig wahrscheinlich sei, die ohnehin willkürliche Kennziffer von 50 Infektionsfällen pro 100.000 Einwohner zu erreichen. Vielmehr müsse es darum gehen, so etwa der Hamburger Virologe Jonas Schmidt-Chanasit, die besonders betroffenen Gruppen, Alte, Heimbewohner und Menschen mit Vorerkrankungen, besonders zu schützen.

Die Todesfallstatistik scheint dies zu bestätigen. Menschen ab 70 Jahren haben ein ungleich höheres Risiko, an Covid-19 zu sterben, als Jüngere, die am meisten betroffene Altersgruppe ist die der 80- bis 89-Jährigen. Das ist nicht neu und gilt übrigens auch für die Letalität bei Grippeerkrankungen. Deshalb wird jetzt immer wieder auf das Tübinger Modell verwiesen. Dort konnten durch umfassende, öffentlich zugängliche Schnelltests für Angehörige und Heimpersonal, Einkaufszeitfenster und verbilligte Taxifahrten für Senioren die Infektionszahlen zumindest zeitweise stark herabgedrückt werden, wie Oberbürgermeister Boris Palmer reklamewirksam erläuterte. Allerdings ist Tübingen eine kleine Stadt mit sehr guter medizinischer Infrastruktur und vergleichsweise geringem Testbedarf. Republikweit ist das Modell kaum umzusetzen. Die Länder haben schon jetzt Schwierigkeiten, genügend Schnelltests für die Heime zusammenzukaufen, ganz davon abgesehen, dass es an Personal fehlt, diese durchzuführen.

Der Zwangsruhe bis zum 10. Januar ging das emotionale Flehen von Kanzlerin Merkel voraus, um die Länderläden in eine Schublade zu zwingen. Der Lockdown II wirkt indessen viel hilfloser als der im Frühjahr und hat, da muss man Wolfgang Kubicki (FDP) einmal recht geben, Züge einer Realsatire, etwa wenn der Gesundheitsminister Senioren über Land schickt, um drei Masken in der Apotheke abzuholen. Die von der Bundesregierung und den Ländern vorgestellte „Alternativlosigkeit“ allerdings ist eine Folge vieler Fehleinschätzungen und Versäumnisse. Nun haben sie kaum mehr Pfeile im Köcher im Kampf gegen die Pandemie, jedenfalls, solange das Volk nicht durchgeimpft ist. Und die Skepsis gegen die auf die Schnelle entwickelten Impfstoffe ist groß, auch beim medizinischen Personal.

Dabei steht auch dieser Lockdown wie die vorhergehenden auf wackligen Rechtsbeinen. Die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen etwa macht darauf aufmerksam, dass die Regelungen auch des dritten Bevölkerungsschutzgesetzes zu unbestimmt seien, um als Rechtsgrundlage für die massiven Grundrechtseingriffe und die Ungleichbehandlung der verschiedenen Wirtschaftssegmente zu dienen. Gleichzeitig wird immer aggressiver gegen die „heilige Kuh“ Datenschutz getrommelt. Man muss keine Hellseherin sein, um vorauszusagen, dass die digitale Überwachung im Zeichen von Corona Anfang nächsten Jahres auf die Spur gebracht wird. Bis dahin gießen wir Blei, um auszulosen, wer zu unseren Liebsten gehört.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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