In Marienbad traf Goethe seine Ulrike. Von Johanna Schopenhauer sind sechs Episteln aus Franzensbad überliefert. Thomas Mann reiste mit vielen anderen seines Formats nach Riva am Gardasee. Gar nicht zu reden vom Monte Verità im Tessin, dem Mekka neurasthenisch angekränkelter Künstler, die dort an der Wende zum 20. Jahrhundert lebensreformerisch gesunden wollten.
Der Konnex zwischen Reisen und Gesundheit besteht von alters her. Aber erst seitdem das Reisen als Kulturtechnik abgesunken ist ins Bürgertum und die unteren Schichten den Globus in Form des Massentourismus mit ihrem eigenen Netz erholungsfördernder Aufrüstung umspannen, ist das entstanden, was man heute Gesundheits- und Medizintourismus nennt. Im ersteren Fall handelt es sich um ambulant oder stationär versorgte Selbstzahler, die unter attraktiven touristischen Rahmenbedingungen gesundheitsfördernde Maßnahmen in Anspruch nehmen. Von Medizintourismus spricht man bei behandlungsbedürftigen Krankheiten, die im Herkunftsland aus unterschiedlichsten Gründen gar nicht oder unter unbefriedigenden Bedingungen angeboten werden. Das Verhältnis zwischen Spa- und medizinisch motivierten Reisen beträgt ungefähr zwei zu einem Drittel. Weltweit bewegen sich rund 11,4 Millionen Menschen jährlich auf solchen Pfaden.
Die Sieben-Tage-Wellness-Tour an die polnische Ostsee, der Trip in die tschechische Reproduktionsklinik oder die Zahnersatzreise nach Ungarn gehören ebenso dazu wie die grenzüberschreitende Schönheitsoperation, die Magenverkleinerung in der Dominikanischen Republik oder gar der Organersatz in Indien.
Umgekehrt kommen Schweden oder Niederländer nach Deutschland, um dem Priorisierungsregime im eigenen Land, der Vorrangigkeit bestimmter Patiententruppen und den Wartelisten zu entgehen. „In Deutschland gibt es kaum Wartezeiten, ein gutes Versicherungssystem, hervorragende Spezialisten und die beste Medizintechnik“, sagt der Medizintourismusexperte Jens Juszczak von der Universität Bonn-Rhein-Sieg. Auch Angehörige aus den ehemaligen GUS-Ländern, die die deutsche Gesundheitsexpertise schätzen (und zahlen können) oder der legendäre „Scheich von Nummer 7“ scheinen die einheimischen Erfahrungen mit der deutschen Zweiklassenmedizin zu bestätigen.
Der Scheich auf Nummer 7
Seit 2004 können sich deutsche Staatsbürger in anderen EU-Ländern nicht mehr nur Wellness-Angebote kaufen, sondern sich dort auch auf Kosten ihrer Krankenkasse behandeln lassen im Rahmen dessen, was diese im Inland bezahlen würde. Die von der EU verordnete Patientenmobilitätsrichtlinie, die von den Mitgliedsländern bis Oktober 2013 umzusetzen war, regelt die Gesundheitsleistungen im gesamten EU-Raum, mit dem Effekt, dass auch immer mehr Patienten von jenseits der Grenze zu diesem Zweck nach Deutschland kommen.
Der kleine und große gesundheits- und medizintouristische Grenzverkehr ist vielfältig und kompliziert, und fahndet man nach Zahlen, gerät man in unsichere Gewässer. Juszczak schätzt, dass jedes Jahr zwischen 230.000 bis 250.000 ausländische Patienten aus 177 Ländern in Deutschland verarztet werden, davon bis zu 45 Prozent nicht als Notfälle, sondern auf eigene Initiative. Den deutschen Krankenhäusern bringt das bis zu 1,2 Milliarden Euro zusätzlich ein. Die hiesige Tourismusindustrie profitiert noch einmal in gleicher Größenordnung. Der weltweite Umsatz in diesem Bereich wird auf 439 Milliarden Dollar geschätzt, die Wachstumsmargen liegen bei 25 bis 30 Prozent.
Die Internationale Tourismus-Börse (ITB) in Berlin hat seit 2017 eigens einen Medical Tourism Pavillion eingerichtet, in dem sich Leistungsträger aus dem medizinischen Bereich, Hotels und angrenzende Dienstleister präsentieren können, von Berlin bis nach Dubai. Mit von der Partie aus Berlin waren auf der ITB bereits das Unfallkrankenhaus und fünf der neun Vivantes-Kliniken, die für ihre ausländischen Gäste-Komfort-Stationen mit kulturspezifischen Angeboten vorhalten. Bislang kommen aber nur 21.000 Medizintouristen in die Hauptstadt, der Senat will die „Gesundheitsstadt Berlin“ nun sogar zur Chefsache machen.
Noch unübersichtlicher werden die Daten im Hinblick der aus Deutschland ins Ausland abwandernden Gesundheitsjünger. Schätzungen zufolge fragen 500.000 bis zwei Millionen Deutsche medizinische Angebote nach, darunter ein großer Anteil an Kur- und Wellness-Urlaubern. Ein nach wie vor wichtiger Grund sind die Kosten: Eine Fruchtbarkeitsbehandlung oder ein Kururlaub in Tschechien sind deutlich billiger als in Deutschland. Das gilt auch für den Zahnersatz in Ungarn oder das Beauty-Styling in Rumänien, das sich mit günstigen Angeboten mittlerweile auf dieses Terrain verlegt hat.
Aber nicht immer ist der Preis der Grund dafür, warum sich Deutsche im Ausland behandeln lassen. Eine Befragung der Technikerkrankenkasse hat 2010 ergeben, dass sich Versicherte, die schon einmal im Ausland medizinische Leistungen beansprucht haben, hochzufrieden äußerten (99 Prozent mit dem medizinischen Personal, 97 Prozent mit dem Behandlungsergebnis). Fast ein Drittel der Versicherten ohne entsprechende Erfahrungen zogen eine Behandlung in einem EU-Land in Betracht.
Dazu passen auch die Leistungsverschiebungen im EU-Raum. Galt etwa Polen bis vor einigen Jahren noch als „Billigheimer“ in Sachen Gesundheit, hat der Staat inzwischen ein gezieltes Förderungsprogramm aufgelegt, um das Land zu einem Mitspieler in der Hochleistungsmedizin zu machen. In der Kardiologie, aber auch in der Orthopädie und anderen Bereichen haben sich spezialisierte Zentren herausgebildet, die konkurrieren können, weil die Personalkosten vergleichsweise immer noch niedrig sind. Um ein Beispiel aus dem Wohlfühl-Sektor zu nennen: Eine Massage in einem Wellness-Hotel an der polnischen Ostseeküste oder eine physiotherapeutische Behandlung wird privat zwischen fünf und zehn Euro abgerechnet.
Ein besonders aparter Leuchtturm des Medizintourismus wurde während der Griechenland-Krise auf Rhodos aufgestellt. In den touristenarmen Wintermonaten, so die Idee, sollen sich pflegebedürftige Deutsche mit Unterstützung der Pflegekasse einmieten, um ihre Angehörigen zu entlasten. Leerstehende Hotels werden dann in „Pflegehotels“ umfunktioniert, und das arbeitslose griechische Personal übernimmt zeitweise die Betreuung der dementen oder mobilitätseingeschränkten Bewohner. Legitimiert wurde das Modell damit, dem darniederliegenden griechischen Gesundheitssystem – etwa durch Know-How-Transfer – auf die Beine helfen zu wollen.
Dass sich diese Art des Medizintourismus auch für die deutschen Sozialkassen rechnet, zeigt sich, wenn man die Preise etwa für Zahnersatz vergleicht. Dann kann es nämlich durchaus sein, dass nicht nur der Patient die Zuzahlung spart, sondern auch die Krankenkasse unter den Kosten bleibt, die sie hier erstatten müsste. Das Gleiche gilt für die Zusatzeinnahmen der Kliniken. Die bevorzugte Behandlung der zahlenden ausländischen Patienten wird damit gerechtfertigt, dass mit dem eingenommenen Geld beispielsweise Geräte angeschafft werden können, die auch deutschen Patienten zugute kommen. Benachteiligt, heißt es, würden diese auf keinen Fall.
Aber stimmt das? So wie der „Scheich auf Nummer 7“ nicht etwa nur etwas mehr Aufmerksamkeit fordert, sondern das ganze Krankenhaussystem auf seine Bedürfnisse abgestellt sehen will, so ziehen auch Deutsche, die sich im Ausland behandeln lassen, in den jeweiligen Ländern Ressourcen ab. Die EU-Richtlinie gibt zwar vor, dass die medizinische Versorgung der jeweiligen einheimischen Bevölkerung gesichert sein muss, auch wenn ausländische Interessenten auf den Gesundheitsmarkt drängen. Nur: Wer kontrolliert das? Wer kann schon sagen, wie lange länger ein Patient warten muss? Das „Zu- und Abreisen ist das Zeichen einer Welt, die nicht klar sieht“, schrieb der Arzt und Dichter Gottfried Benn. Der Medizintourismus ist Teil dieses globalen Venusnebels.
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