Permanenter Krisenpegel

SOZIALGESCHICHTE DER ARMUT Symptome, Kategorisierungen und Elendsbekämpfung haben sich in 400 Jahren kaum verändert. Die Historie zeigt, wie stark das Thema die Sozialpolitik beherrschen sollte

Was am meisten frappiert, sind die historischen Kontinuitäten: Mag die Armut in der Frühen Neuzeit auch ein anderes Gesicht gezeigt haben und mögen die krassen Phänomene unser heutiges Verständnis von Armut strapazieren, so weisen die Typologien, die gesellschaftlichen Begründungszusammenhänge und auch die Lösungsstrategien überraschende Übereinstimmungen auf. Ebenso wie heute waren es zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert Kinder unter 15 Jahren, weibliche Haushaltsvorstände und alte Menschen, die die Fürsorgelisten füllten oder als Bedürftige die Spitäler aufsuchten; durchs Land vagabundierten hingegen vorwiegend Jugendliche und junge Männer, die sich durch Gelegenheitsarbeit über Wasser hielten oder gegebenenfalls bettelten.

Seit dem 16. Jahrhundert bürgerte sich in der zeitgenössischen Armutsdiskussion auch die Unterscheidung zwischen »würdigen« Armen - also Menschen, die aufgrund von Krankheit oder äußeren Umständen unschuldig in ihre missliche Situation geraten waren - und jenen »Unwürdigen« ein, die als arbeitsfähige »Bettler oder Beutelschneider« wahrgenommen und disqualifiziert wurden. Deren brachliegende Arbeitskraft beklagten kirchliche und staatliche Vertreter der Armutspolitik, und so begann im 17. Jahrhundert der Versuch, die arbeitsfähigen Armen in Arbeitshäuser und ähnlichen Einrichtungen zu internieren, um sie zu geregelter Beschäftigung zu »erziehen« und womöglich auszubeuten. Wo die Armen überhand nahmen und die innere Sicherheit zu bedrohen schienen, versuchte man sich ihrer zu entledigen, indem man sie auswies oder gar in die überseeischen Kolonien deportierte.

Dabei - und darauf legt Robert Jütte in seiner eben erschienenen Übersichtsstudie zur Sozialgeschichte der Armut in der Frühen Neuzeit großen Wert -, gehen die modernen Armutsbegriffe, die theoretisch zwischen »relativer« und »absoluter« Armut unterscheiden und sich an sozioökonomischen Daten orientieren, fehl, wenn man Armut als historische Kategorie für die vorindustrielle Gesellschaft fassen will. Obwohl sich die Theoretiker und Praktiker im Fürsorge-Geschäft bemühten, die Bedürftigen dem seit der Reformation kultivierten bürgerlichen Leistungsethos zu unterwerfen, galt im Nachklang des mittelalterlichen Caritas-Gedankens Armut doch weiterhin als gottgewollte Fügung, durch die sich die Reichen ihr Seelenheil erkaufen konnten.

Jütte legt dar, dass sich die Gesellschaft in allen europäischen Regionen seit dem späten 15. Jahrhundert damit auseinandersetzen musste, dass die Armut nicht nur quantitativ zunahm, sondern auch ihren Charakter veränderte. Die insbesondere in Krisensituationen stetig anwachsende Zahl von armen und bedürftigen Menschen galt den Verantwortlichen als bedrohlicher Unruheherd und rief nach staatlicher Verwaltung und Kontrolle.

Das zahlenmäßige Ausmaß der Armut zeigt, dass die Frühe Neuzeit nicht nur mit einem Bodensatz beständig armer Menschen, der etwa bei zehn Prozent der Bevölkerung lag, fertig werden musste, sondern weitere 20 Prozent der unterprivilegierten Bevölkerung einen permanenten »Krisenpegel« bildeten; dieser konnte je nach Konjunktur rapide ansteigen und Handwerker, Händler oder sogar Kleinadlige in seinen Sog reißen, so dass - wie Jütte annimmt - bis zu 80 Prozent der Bevölkerung potenziell von Armut bedroht waren. Dass dies bereits von den Zeitgenossen als »Schande« wahrgenommen wurde, lässt sich daran ablesen, dass in manchen Gegenden die Fürsorgelisten alljährlich vernichtet wurden.

Die Ursachen der Armut waren, wie heutzutage auch, vielfältig und doch spezifisch geprägt von den Bedingungen der Zeit. Schicksalsschläge wie Krankheit oder Tod des Haushaltsvorstandes konnten eine Familie ebenso ins Elend treiben wie die großen Pestepidemien oder Kriege, die Plünderungen, Hunger und Wanderbewegungen nach sich zogen. Insbesondere Missernten und damit einher gehende Lebensmittelteuerungen und die Krise der Textilindustrie trafen die arme Bevölkerung und senkten den allgemeinen Lebensstandard. Und entgegen der Auffassung, dass Kinder in der alten Gesellschaft soziale Sicherheit garantierten, offenbart die Literaturschau des Stuttgarter Sozialhistorikers, dass damals wie heute Kinderreichtum ein Armutsgrund ist.

Eine plastische Vorstellung von der Armut in der Frühen Neuzeit liefern Nachlassinventare: Eine schäbige Bettstatt, ein Wasserkessel oder ein abgetragener Mantel galten als begehrte Erbstücke. Die Wohn- und Ernährungsverhältnisse insbesondere in den Städten waren katastrophal, Mietrückstände zwangen zu häufigen Umzügen in immer miserablere Quartiere, die armen Bevölkerungsschichten wurden an den städtischen Rand gedrängt. So bildete sich in der vorindustriellen Gesellschaft bereits eine »Topographie der Armut« - die Abschottung von wohlhabenden und armen Vierteln - aus, die im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt fand.

Wie bedrängt die Lage der Bedürftigen jedoch auch gewesen sein mag, immer waren sie bestrebt, möglichst lange selbstständig zu bleiben, sei es durch Verwandtschaftsbeziehungen, nachbarliche Unterstützung oder andere hilfeleistende Netzwerke. Ob allerdings arme Frauen in der frühneuzeitlichen Gesellschaft tatsächlich auf mehr Unterstützung hoffen konnten als Männer, wie der Autor annimmt, mag - erinnert man sich etwa daran, dass gerade Frauen die großen Brotkrawalle des 19. Jahrhunderts anführten - bezweifelt werden; möglicherweise wurden sie einfach weniger wahrgenommen und tauchen deshalb in den Quellen seltener auf.

Jüttes Sprünge durch die Jahrhunderte und die europäischen Territorien hinterlassen mitunter ein verwirrendes Bild, das sich im systematischen Teil über die Neuordnung der Armenpflege noch verstärkt. Was sich aus den vielfältigen Regional- und Lokalstudien destillieren lässt, ist die Widerlegung eines in der Historiographie gepflegten Mythos, dass nämlich die Reformation für die institutionellen Umbrüche im Fürsorgewesen verantwortlich gewesen sein sollen. Jütte dagegen zeigt, dass beide konkurrierenden Systeme - zentralisierte und dezentralisierte Armenfürsorge - nebeneinander her existierten. Dabei ist der Trend zur Rationalisierung, Bürokratisierung und Professionalisierung nicht nur in den reformierten Staaten zu beobachten, sondern auch in den Gebieten der Gegenreformation.

Um der Wahllosigkeit der Almosenvergabe zu begegnen, begann man deshalb auch, wie schon erwähnt, die Armen in würdige und unwürdige Bedürftige einzuteilen und eine Art moderner »Bedürftigkeitsprüfung« einzuführen. Während erstere in das administrative Hilfsnetz Aufnahme fanden, wurden die für »unwürdig« Befundenen kriminalisiert, stigmatisiert und ausgegrenzt. Der Kampf gegen die Bettelei war »das« sozialpolitische Thema der Frühen Neuzeit. Doch Diebstahl, Warenschmuggel, Prostitution - »Beschaffungskriminalität«, wie wir heute sagen würden - und die Landstreicherei ließen sich mit Verordnungen oder Einsperrung kaum verhindern; die allerorten eingerichteten »Besserungsanstalten« und Arbeitshäuser hatten letztlich nicht den erwünschten erzieherischen und ökonomischen Effekt.

Hingegen entwickelte sich innerhalb der sogenannten »Ökonomie des Notbehelfs« eine Armutskultur, die von der mobilen und unsicheren Lebensweise der Betroffenen geprägt war. Vor allem die gemeinsame Sprache wie das Rotwelsch oder das Argot fungierte als Code, der nicht Eingeweihte ausschloss. Sozialromantische Aufstandsideen lassen sich nach Auffassung des Autors hieraus allerdings kaum ableiten - schon deshalb nicht, weil die Armen als Subjekte bei Jütte nur selten zu Wort kommen. Sein überaus aufschlussreicher Blick zurück gilt den »großen Linien« dieses umfassenden Themas, das - vielleicht mehr denn je - die Sozialpolitik der 21. Jahrhunderts bestimmen wird.

Robert Jütte: Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgeschichte der Armut in der Frühen Neuzeit. Aus dem Englischen von Rainer von Savigny. 324 Seiten, Böhlau-Verlag, Weimar 2000.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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