Als sich in den siebziger Jahren Afrika mit einem gewaltigen Befreiungsimpuls in das Weltgeschehen zurückmeldete, begannen die westlichen Verlage, die literarische black box des schwarzen Kontinents zu enthüllen. Damals erschienen auch in westdeutschen und Schweizer Verlagen zahlreiche Anthologien mit Erzählungen mehr oder minder unbekannter Autoren aus afrikanischen Ländern. In einer 1980 bei Suhrkamp erschienenen Sammlung von Texten findet sich auch eine Geschichte von Ngũgĩ wa Thiong’o, Das Mercedes-Begräbnis. Herausgeber Rüdiger Jestel deutet die Erzählung des 1938 geborenen Kenianers, der schon damals ein beeindruckendes Werk vorzuweisen hatte, als ein Exempel für die enttäuschten Hoffnungen der Afrikaner nach der Unabhä
r nach der Unabhängigkeit, eine sich wiederholende Entwicklung, für die Kenia früh exemplarisch war.Man hätte annehmen könnnen, dass ein Autor wie Ngũgĩ wa Thiong’o, der von den Buchmachern in den letzten Jahren immer wieder auf die Liste der Nobelpreisverdächtigen gesetzt wurde, von einem großen deutschen Verlag unter die Fittiche genommen worden wäre. Doch um die deutschsprachige Verbreitung, auch seines viel gelobten, über 1.000 Seiten umfassenden Hauptwerkes Herr der Krähen von 2011 (der Freitag 6/2012), kümmert sich der kleine Münchner A1-Verlag im Rahmen seines literarischen Schwerpunktes Afrika.EntwicklungsromanDort erschien auch der erste Teil von Thiong’os Lebensgeschichte Träume in Zeiten des Krieges, in dem die Kindheitsjahre des in armen bäuerlichen Verhältnissen aufgewachsenen Autors, dessen Vater 24 Kinder mit vier Frauen hatte, geschildert werden. Den Kindheitserlebnissen folgt nun ein weiterer Band über die Jugendjahre in den fünfziger Jahren, die Thiong’o in einer Missionsschule in Kikuyu verbrachte. Über dem Land hängt der von Großbritannien verhängte Ausnahmezustand, die Mau-Mau-Bewegung kämpft aus dem Untergrund gegen das Kolonialregime.Wie schon der erste Teil der Autobiografie ist auch Im Haus des Hüters als klassischer Entwicklungsroman konzipiert. Er setzt 1955 ein mit dem ersten Trimester des jungen Thiong’o an der Alliance High School, der ersten Oberschule für schwarze Kenianer, in der vorwiegend Lehrer ausgebildet wurden. Sie unterstand der strengen Leitung des Engländers Carey Francis, dessen Ziel es war, eine intellektuelle und moralische schwarze Führungsschicht heranzuziehen. Für den Siebzehnjährigen, dessen einer älterer Bruder sich der Mau-Mau-Bewegung angeschlossen hat, gewährt die Schule zunächst einmal Schutz vor dem gewalttätigen Alltag in Kenia, der auch auf Limuru übergreift, als der kleine Ort nordwestlich von Nairobi umgesiedelt wird.Als er seinen Heimatort zum ersten Mal wieder besucht, sieht Thiong’o ein „Konzentrationslagerdorf“, von dem er innerlich bereits Abstand genommen hat: „Es braucht einen Fremden wie mich, das zu betrachten, wozu man selbst keine Zeit hat.“ Und ihn erinnert das neue Zuhause nur noch an das, was er verloren hat.Die Entfremdung von seiner Herkunftsgemeinschaft korrespondiert mit irritierenden Erfahrungen an der Missionsschule. Dort stehen – undenkbar in seinem Dorf – beschnittene und unbeschnittene Jungen zusammen unter der Dusche, er liegt zum ersten Mal in seinem Leben in einem eigenen Bett, weiße Lehrer lehren ihn, mit Messer und Gabel zu essen – und er trägt eine Schuluniform, die ihn als Zugehörigen der Schule ausweist und vor den Übergriffen der Kolonialsoldaten schützt.Mit der fortschreitenden Schulzeit erkennt er aber auch, dass all das, was ihm vermittelt wird, einen zentralen Bezugspunkt hat: Europa. Afrika erscheint ausschließlich aus imperialistischer Perspektive: „Unsere Zukunft wurde in England gemacht.“ Auf der Suche nach einer neuen Identität flüchtet sich der Heranwachsende in religiöse Erweckungserlebnisse – und in das von der Schule geförderte Theaterspiel, das die Grundlage für die spätere Entwicklung als Schriftsteller legt. Das kleine Leben des Schülers verschränkt Thiong’o immer wieder mit den politischen Ereignissen in Kenia und in Afrika, die der junge Mann aus dem von ihm so empfundenen „Refugium“ heraus beobachtet: 1957 die Unabhängigkeit Ghanas und Libyens, die Umwälzungen in Marokko und Tunesien, die Verstaatlichung des Suez-Kanals. Waren ihm die Mau-Mau-Aktivisten früher überlebensgroß vorgekommen, erscheinen ihm die neuen „Darsteller nun auf einer Bühne, die ich überschauen konnte“, denn die Jungen werden Zeugen ihrer Auftritte und Abgänge.In der LernmaschineDie Theatermetapher zieht sich durch den gesamten Bericht, als Beleg dafür, wie sehr dem damaligen Schüler, der eingebettet ist in die Lernmaschinerie, den Sport und seine Freundschaften, die große Welt als Bühne erscheint. Insbesondere der Sport und die nach Afrika transferierte Pfadfinderbewegung bestimmen das Gemeinschaftserlebnis der Jugendlichen.Nach drei Jahren und der Absolvierung seiner Prüfungen verlässt Thiong’o, vorerst Hilfslehrer, den geschützten Raum, der ihm wie ein stellvertretender Mutterleib war. Er hat sich für die Makerere-Universität in Uganda qualifiziert, eine wichtige Etappe der künftigen afrikanischen Elite. Doch vorher bekommt er es mit den „Bluthunden“ zu tun: Er wird anlässlich einer Razzia inhaftiert und erlebt die Willkür der Kolonialmacht, unter der seine Familie zu leiden hatte, nun am eigenen Leibe. Was er aber an der Alliance gelernt hat, das Reden, wird sein Türöffner aus dem Gefängnis sein.Der streng chronologisch verfahrende Bericht überrascht durch die einfache Sprache, die manchem deutschen Rezensenten zu unterkomplex erscheint, um literarisch anerkannt zu werden. Thiong’o ist der einzige schwarze Schriftsteller von Weltrang, der in seiner Muttersprache schreibt und seine Werke selbst ins Englische übersetzt. Das ist durchaus bemerkenswert für einen im Exil lebenden, in Yale und an der University of California Englisch unterrichtenden Autor. Er musste fliehen, weil eines seiner Theaterstücke 1977 den Unwillen des kenianischen Präsidenten Jomo Kenyatta erregte; er ließ Thiong’o foltern und seine Werke verbieten.Schon in Kenia hatte sich Thiong’o mit dem Problem der Kolonialsprachen für afrikanische Autoren auseinandergesetzt und dies in seinem Essay Decolonizing the mind 1986 ausführlich reflektiert. Gikuyu zu sprechen war bereits in der Schule, von der er in seinem Buch berichtet, verboten. In den Erinnerungen findet sich auch der Schlüssel seines semantischen Understatements. Sein weißer Literaturlehrer forderte die Schüler damals auf, keine Wörter mit lateinischen, sondern mit englischen Wurzeln zu verwenden und von der Sprache der Bibel zu lernen, denn Jesus habe ein sehr einfaches Englisch gesprochen. Aus der King-James-Bibel, so Thiong’o, „lernte ich, das Einfache, das Zusammengesetzte und das Vielfältige miteinander zu unterschiedlicher Wirkung zu bringen.“
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