Pflegebedürftig

Kommentar Die Zeit rennt, das Geld zerrinnt

Das Szenario ist schon ein wenig eigenartig: Während der Kanzler darauf beharrt, das bislang geschnürte Reformwerk nicht anzutasten, befindet sich die Politfigur auf taktischem Rückzug, die das Ganze eigentlich verantwortet: Anfang der Woche erklärte Ministerin Schmidt, dass sie "nicht darauf wetten" wolle, ob es die Praxisgebühr "in fünf Jahren" noch gebe. Mittlerweile hat ihr Ministerium relativiert, die Chefin habe nur das Hausarztmodell, durch das sich die Gebühr künftig vermeiden lasse, propagieren wollen.

Offenbar ist die Praxisgebühr nach wie vor das corpus delicti dieser Gesundheitsreform - auch wenn Umfragen behaupten, fast die Hälfte der Deutschen würden sie mittlerweile befürworten. Es ist, als ob sich in ihr der soziale Unmut, der sich seit Monaten über der SPD entlädt, bündelte. Dass der Kanzler kürzlich die 2,50 Euro einkassierte, die Ulla Schmidt Kinderlosen und nicht mehr Erziehenden zusätzlich für die Pflegeversicherung abverlangen wollte, scheint die Öffentlichkeit nicht gleichermaßen wahrzunehmen. Dabei demontierte Schröders "Machtwort" gleich die gesamte Sanierungsanstrengung.

Notwendig ist die allemal. Denn die Defizite der Pflegekasse, so rechnen Verbände, Finanzexperten und jetzt auch das Sozialministerium selbst vor, steigen von Jahr zu Jahr: Betrug der Fehlbetrag 2002 noch 400 Millionen Euro, stieg er 2003 bereits auf 670 Millionen, und in den beiden kommenden Jahren müssen 750 beziehungsweise 800 Millionen Verlust eingeplant werden - mit steigender Tendenz. In zwei bis drei Jahren, so die Prognosen, werden die Rücklagen von derzeit noch 4,3 Milliarden Euro aufgebraucht sein.

Man mag es schon gar nicht mehr hören: Immer mehr Pflegebedürftige müssen von immer weniger Beitragszahlern alimentiert werden, der Beitragssatz ist sakrosankt, weil sich sonst die Unternehmen querlegen, und auch die Versicherten nicht ohne Ende auszupressen sind. Instinktsicher hat der Kanzler die "Grenze der Belastungsfähigkeit" verkündet, die der Löhnenden, aber vielmehr noch die seiner Partei, die es satt hat, sich etwa von einer Maria Böhmer (CDU) auf der Sozialspur überholen zu lassen.

Doch die Zeit rennt, das Geld zerrinnt. Die zehn Euro, die in die Praxen fließen, die zum Teil unverschämt erhöhten Preise für Medikamente und auch eine Kinderlosen-Strafsteuer - all das wird und würde das System nicht sanieren. Und auch das Gezerre darum wird die SPD nicht retten. Wenn die Sozialversicherungen zum Pflegefall werden, dann muss eine Pflegschaft her, die das Mündel nicht zu Tode hetzt, sondern ihm Entwicklung und Perspektive ermöglicht. Statt sich über die ungeliebte Praxisgebühr und 2,50 Euro zu verzetteln, sollte die Koalition schnellstmöglich angehen, was die Leute mehrheitlich wollen: Die Einführung einer Bürgerversicherung, die Kranken- und Pflegeversicherung in einem System zusammenfasst.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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