So ist der Alltag: „Vor ein paar Wochen wurde ein Patient auf unsere Notfallstation gebracht, ich hatte Frühdienst, war alleine, die Ärzte waren nach ihrem 24-Stunden-Dienst noch in den Betten. Dem Patienten ging es schlecht, er hatte zwar nur eine Kopfwunde, bekam aber keine Luft und zeigte auffällige Herztöne. Da musste ich entscheiden, hole ich Hilfe oder suche ich mein Equipment zusammen, weil der Nachtdienst es nicht mehr geschafft hatte, die Schränke aufzufüllen. Oder bleibe ich bei dem Patienten. Man trifft ständig Entscheidungen, von denen man weiß, dass sie schlecht sind.“
Es ist der Alltag auf der Chirurgischen Notfallstation im Klinikum Essen. Seit über vier Jahren arbeitet Lisa Schlagheck dort als Notfallschwester. Dass sie in der Nachtschicht alleine auf den zwei Stockwerken – der Notfallversorgung im Erdgeschoss, wo Notfälle ankommen, und dem Schockraum im ersten Obergeschoss, wo Schwerstverletzte versorgt werden – arbeitet, ist normal. „Eigentlich sollten wir immer zu zweit sein, aber das habe ich seit Jahren nicht erlebt.“ Die Fachgesellschaften, klärt ihre Kollegin Carolin Heitmann auf einer Pressekonferenz diese Woche auf, empfiehlt drei Pflegekräfte alleine für den Schockraum.
Hüftbruch? Bett auf dem Gang
Nach Corona haben, wie überall, viele Pflegekräfte die Uniklinik Essen verlassen oder ihre Arbeitszeit verringert. Patient:innen, erzählt Schlagheck, müssten manchmal zehn oder sogar 15 Stunden warten. Alte Damen mit Hüftbrüchen lägen einen ganzen Tag auf dem Gang, weil wegen Personalmangels kein Bett frei sei. „Da gibt es keine Privatsphäre, wenn sie sich in ihrer Verwirrung ausziehen oder freistrampeln. Niemand hat Zeit, sie wieder anzuziehen.“ Wenn sie darüber redet, wird Schlaghecks Stimme immer schneller. Sie leidet darunter, dass sie die Auszubildenden überfordert: „Bleiben Sie beim Patienten, und rufen Sie, wenn was ist.“ Und was, wenn?
Solche unhaltbaren Zustände sind es, die Lisa Schlagheck und ihre Kolleg:innen in Nordrhein-Westfalen aus ihren Uni-Kliniken und in den Streik getrieben haben. Seit inzwischen acht Wochen befinden sich die Pflegekräfte und andere Berufsgruppen, das Reinigungs- und Servicepersonal, die Beschäftigten in Physiotherapie, Labor und Radiologie, im Transport, im Ausstand. Sie fordern nicht mehr Lohn, sondern das Selbstverständliche: dass sie ihre Arbeit so machen können, dass Patient:innen sicher versorgt sind und sie selbst über dem Stress nicht krank werden. Unterstützt von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi setzen sie sich nach dem Vorbild der Berliner Krankenhaus-Bewegung für einen „Tarifvertrag Entlastung“ ein. Wenn sie in unterbesetzten Arbeitsbereichen arbeiten, sollen ihnen freie Tage zustehen, an denen sie sich erholen können.
Nach Verdi-Angaben fehlen an Krankenhäusern in NRW bis zu 20.000 Fachkräfte, an den Uniklinken mehrere Tausend. „Die Beschäftigten an den Uni-Kliniken sind als Maximalversorger durch Corona ins Blickfeld gerückt und haben viel Selbstbewusstsein entwickelt“, sagt der Essener Gewerkschaftssekretär Jan von Hagen dem Freitag.
Der Streik der Pflegekräfte in Berlin wirkte mobilisierend. Und obwohl sich die Klinikleitungen um mehr Personal bemühten, so von Hagen, und die Zahl der Mitarbeiter:innen gestiegen sei, hätten sich die Anforderungen überproportional erhöht. „Die Pflegekräfte haben kein Interesse daran, im Geschäftsbericht zu lesen, es gäbe zwölf Prozent mehr Stellen, sondern sie wollen, dass sich auf ihrer Station, wo vorher sechs Pflegekräfte tätig waren und es nun nur noch vier sind, etwas ändert.“
Ein erstes Angebot, von dem kaum jemand profitiert
Petra Bäumler-Schlackmann bekommt das von der anderen Seite mit. Sie war Teamassistentin am Klinikum Essen, bis sie als Personalrätin freigestellt wurde. Jeden Tag ist sie mit Überlastungsanzeigen von Kolleg:innen konfrontiert. „Wir laufen dem immer hinterher, weil wir akut gar nichts tun können“, sagt sie. „Man erlebt jeden Tag, was los ist, und man fühlt sich ohnmächtig.“ Sie kommt an diesem Montagmorgen gerade von einer Streikversammlung, 200 Kolleg:innen haben sich beteiligt. „Die Stimmung war sehr gut, wir haben beraten, wo wir jetzt stehen, und die Bereitschaft weiterzumachen ist groß.“
Wo stehen die Streikenden? 36 Tage nach Streikbeginn haben sich die Arbeitgeber aufgerafft, überhaupt ein Angebot vorzulegen, allerdings nur für die Pflegekräfte, die auf den Stationen arbeiten. Ihnen wurden pauschal fünf Entlastungstage zugestanden, die nach und nach wieder abgebaut werden sollen, bis der Personalschlüssel erreicht ist. Verdi hat dies abgelehnt: „Mehr als die Hälfte der Beschäftigten wäre nicht betroffen gewesen“, sagt Gewerkschaftssekretär von Hagen. Die Arbeitgeber hätten nur den Teil berücksichtigt, der durch das Pflegestärkungsgesetz refinanziert werden kann, das betrifft nicht einmal das Pflegepersonal im OP, in der Notaufnahme, auch nicht im Kreißsaal oder beim Krankentransport. „Außerdem wollen die Beschäftigten keine Pauschalregelung, sondern Abhilfe dort, wo es konkret nötig ist.“ Personalrätin Bäumler-Schlackmann stimmt zu: „Das Krankenhaus muss insgesamt gesehen werden“, sagt sie: „Wir brauchen Sicherheit für die Patient:innen und das Personal.“
Es sind die Arbeitgeber, die das Patientenwohl gefährden
Mit dem Patientenwohl argumentieren auch die Arbeitgeber und machen die Streikenden verantwortlich für ausfallende Operationen. Ein Brandbrief der Unfallchirurgen führte dazu, dass die Uni-Klinik Bonn eine einstweilige Verfügung zu erwirken versuchte. Die Arbeitsrichterin wies dies vergangene Woche zurück. Der Arbeitskampf sei verhältnismäßig, weil es eine Notdienstvereinbarung gäbe. „Unsere Hilferufe in der Klinik werden ignoriert“, kritisiert Lisa Schlagheck die Verdrehung der Realität. Der Streik finde unter kontrollierten Bedingungen statt. Bei Notfällen, so beobachtet auch die Personalrätin, gingen die Kolleg:innen eher in die Klinik, als draußen zu bleiben. Es seien die Arbeitgeber, die das Patientenwohl gefährdeten.
Am Dienstag dieser Woche gingen die Verhandlungen in die entscheidende Runde. Vorher hatte die Tarifgemeinschaft der Länder den Klinikleitungen untersagt, eigenständig zu verhandeln. So mussten die Uni-Kliniken, nachdem die Landesregierung das Hochschulgesetz geändert hatte, aus dem Arbeitgeberverband ausscheiden. „Wir bedauern das sehr“, sagt Verdi-Mann von Hagen. Unter dem Motto „Mehr von uns ist besser für alle“ bekräftigten die Beschäftigten auf einer Pressekonferenz in Köln ihre Forderungen während der laufenden Verhandlungen. In Münster wurde zeitgleich demonstriert.
Das ist wichtig, denn in der Öffentlichkeit ist dieser Streik viel weniger präsent als der Pflegeausstand in Berlin 2021. Die für diesen Text Interviewten führen das darauf zurück, dass die Gesellschaft derzeit mit anderen Themen befasst und eine gewisse Erschöpfung in Sachen Pflegesolidarität festzustellen sei. Deshalb müsse der Ausstand auch irgendwann ein Ende finden, sagt Bäumler-Schlackmann. „Die Bevölkerung setzt sich nicht gerne damit auseinander, dass das Krankenhaus kein sicherer Ort mehr ist“, meint Schlagheck. Sie will so lange streiken, bis sie im Alltag Verbesserungen spürt.
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