Politik der Miniaturisierung

Stammzellen-Import Von Trüffelschweinen und neuen Wertegemeinschaften

Gelegentlich sagen Bilder mehr als alle politische Rhetorik. Als Anfang der neunziger Jahre die §218-Diskussion einen neuen Höhepunkt erreichte, operierten Abtreibungsgegner mit den berühmten Nilsson-Fotos, die einen durchsichtig-rosafarbenen achtzehnwöchigen Embryo an der Nabelschnur in salziger Nährlösung zeigen. Life feierte die Bilder bei der Erstveröffentlichung als Einblick in "die ersten Tage der Schöpfung". Heute, zehn Jahre später, haben wir uns daran gewöhnt, ein kugelförmiges verzupftes Gebilde automatisch als embryonalen Achtzeller, aus dem Stammzellen zu gewinnen sind, zu identifizieren. Bei entsprechender Vergrößerung haben die Objekte verblüffende Ähnlichkeit mit weißen Trüffelpralinen. An "Leben" erinnern die Gebilde jedenfalls nicht, und es bedarf schon einer erheblichen Abstraktionsleistung, sie als Kern unseres Seins auszumachen.

Diese Form der Miniaturisierung - ob es sich nun um Informations-, Nano- oder Biotechnologien handelt - ist ein Kennzeichen unserer Zeit. Die moderne Wissenschaftsleistung besteht auch darin, Unsichtbares sichtbar zu machen, ihm eine greifbare Form zu geben, zu visualisieren - und damit komplizierte Zusammenhänge zu vereinfachen. Die Politik scheint auf diese Entwicklung zu reagieren, indem sie eigentlich komplexe Problemlagen wie etwa die Fortpflanzungsmedizin und die ihr anhängenden Bereiche in servierfähige Häppchen zerteilt und sie dann gesetzgeberisch verdauen lässt. Dann geht es wie am Mittwoch im Bundestag nicht mehr um die weiträumigen Zusammenhänge von Leidensminderung, genetischer Auslese, informationeller Selbstbestimmung, wissenschaftlicher Vernützlichung, Forschungsfreiheit und vieles mehr, sondern das Problem wird - ökonomiebegrifflich verkürzt - auf den Import embryonaler Stammzellen begrenzt.

Ausgerechnet der Ethikrat-Vorsitzende Spiros Simitis war es, der vergangene Woche beim ersten öffentlichen Auftritt des Gremiums folgendes Szenario ausmalte: Was nämlich wäre, wenn die Stammzellen aus einem EU-Land kämen und man dann vor dem Europäischen Gerichtshof über die Regeln verhandeln müsste, nach denen Embryonen als Ware eingeführt werden könnten? Wie bei jeder beliebigen Ware stieg das Interesse am Rohstoff Embryo auch, als er billig zu haben war - als sich nämlich die Gelegenheit ergab, die teuren patentgeschützten US-Zelllinien zu umgehen und patentfreie, kostengünstige aus Israel zu beziehen. Just in diesem Augenblick stellte Oliver Brüstle seinen Antrag an die DFG, die daraufhin ihre Meinung zur embryonalen Stammzellforschung änderte.

Trotz dieser gewollten politischen Miniaturisierung haben die ja durchaus warenförmig erscheinenden weißen "Trüffelkugeln" das politische Lager wie seit langem nicht mehr aufgemischt und seltene Koalitionen gestiftet. Von der grünen Feministin über den schwarzen Lebensschützer bis (fast) zur "roten Socke" - hier hatten die Christdemokraten ihre Schamgrenze nicht ganz überwinden können - findet sich auf der Seite der Importgegner so ziemlich das gesamte politische Spektrum wieder. Und die Koalition zwischen dem CDU-Pfarrer Peter Hintze, Max-Planck-Präsident Hubert Markl und der Freiverkehrs-FDP, die zusammen das Embryonenschutzgesetz am liebsten jetzt schon abwickeln würden, ist auch nicht ohne Delikatesse.

Es scheint, dass sich jenseits der Parteien, deren Profile immer ununterscheidbarer werden, neue Bündnisse, wenn man so will: Wertegemeinschaften formieren. Würde die Fraktion der Importgegner am Mittwoch im ersten Wahlgang die Mehrheit erreichen - und nur so wäre aufgrund des Stichwahlverfahrens der Import überhaupt zu verhindern -, dann würde dies nicht nur ein deutliches Signal der Politik gegenüber einer drängenden Wissenschafts-Community sein, sondern auch die Selbstaufforderung, sich nicht nur in Fragen von Leben und Tod aus überkommenen Fraktionszusammenhängen zu lösen. Wenn sich, was wahrscheinlicher ist, die zögerlichen Importbefürworter durchsetzen, obsiegt wieder einmal die Politik der Miniaturisierung, die vor den Konsequenzen eingeengter Entscheidungen die Augen verschließt.

Diese Inkonsequenz geißeln - zu Recht, wenn auch mit anderer Interessenlage - die beteiligten Wissenschaftler, wenn sie Embryonenschutzgesetz und Stammzellenforschung für unvereinbar erklären. Dass sie dennoch, wie Molekularbiologe und Ethikratsmitglied Detlev Ganten, auf die "kleinen Schritte" setzen und mit dem Import die Tür einen Spalt breiter geöffnet sehen, spricht für die allseitige politische Miniaturisierung. Und Wissenschaftler sind von Haus aus Trüffelschweine mit viel Geduld.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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