Die Szene hatte etwas Ironisches: Im CDU-Fraktionsraum im Schöneberger Rathaus, exakt unter dem Foto Ludwig Erhards, dozierte Gesundheitsökonom Karl Lauterbach über die erneute Erhöhung der Tabaksteuer. Dass hingegebene Qualmer wie dieser Gründungsvater der sozialen Marktwirtschaft tiefer in die Tasche greifen sollen, um die gesundheitliche Vorsorge ihrer Mitbürger zu finanzieren, ist für den ehemaligen Politikberater und frisch gebackenen Bundestagsabgeordneten überhaupt kein Widerspruch, auch wenn er auf die Frage eines Journalistenkollegen, wie hoch er sich den Obolus dieses Mal wünsche - einen Euro pro Packung? - ausweichend reagierte: spürbar.
Denn es wird viel kosten, wenn die vierte Säule des Gesundheitssystems - die Prävention - tatsächlich realisiert werden sollte. Nachdem das von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt noch ausgearbeitete Präventionsgesetz im Sommer nicht mehr verabschiedet werden konnte, ist dessen Schicksal ungewiss. Dabei herrscht unter Experten, bei aller Kritik im einzelnen, Einigkeit darüber, dass etwas getan werden muss. Deshalb folgte auch der alljährlich in Berlin stattfindende Kongress "Armut und Gesundheit", eine Art gesundheitspolitischer Ratschlag von Gesundheitsarbeitern und Betroffenen, der Forderung "Präventionsziele gegen Armut" zu formulieren.
Dafür sprechen schon die dürren Zahlen: Weit über 100.000 Menschen, so Schätzungen, fallen in Deutschland aus der Gesundheitsversorgung, mit steigender Tendenz. Doch auch Langzeitarbeitslose, die noch versichert sind, leben mit erhöhtem Krankheitsrisiko. Menschen, die länger als ein Jahr erwerbslos sind, so Gesundheitsexperte Rolf Rosenbrock, sind doppelt so krankheitsgefährdet wie ihre erwerbstätigen Kollegen. Männer aus dem untersten Viertel der Einkommensskala haben eine um zehn Jahre geringere Lebenserwartung als Männer aus dem oberen Viertel, bei Frauen sind es immerhin noch fünf Jahre.
Die soziale Ungleichheit nimmt aber nicht nur innerhalb einer Generation zu, sondern setzt sich von Generation zu Generation fort, weil Kinder, die unterhalb der Armutsgrenze leben, schlechter ernährt sind, bewegungsarm leben und von gesundheitsfördernden Maßnahmen oft nicht erreicht werden. Elf Millionen Menschen, vermutet Elisabeth Pott von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), die den Kongress mitträgt, seien einem Armutsrisiko ausgesetzt. Die BZgA hat mittlerweile einen nationalen Kooperationsverbund initiiert, um die Partner aus Gesundheitswesen und Politik zu bewegen, Förderungsstrategien für sozial Benachteiligte zu erarbeiten.
Prävention ist keine Kür, sondern eine Entwicklungsaufgabe. Bislang wird Gesundheitsförderung aber nur als Anhängsel der Akutmedizin begriffen und sie leidet daran, dass sie die wirklich Betroffenen nicht erreicht. Präventive Angebote werden nämlich vor allem von Angehörigen der Mittelschicht wahrgenommen; Kinder aus sozial schwachen Familien, arme Alte, Arbeitslose oder Migranten nehmen diese viel seltener in Anspruch, sei es, weil sie nichts davon wissen oder weil die Angebote nicht auf sie zugeschnitten sind. Eine Möglichkeit, Migrantinnen besser in die Gesundheitsversorgung einzubeziehen, stellte das Frauengesundheitszentrum Berlin vor. Es bietet mehrsprachige Kurse für ältere Frauen an, die sich an ihren spezifischen Gesundheitsproblemen orientieren und ihren kulturellen Hintergrund berücksichtigen. Das stärkt ihre Autonomie als Patientinnen und wirkt gleichzeitig integrativ.
Mittlerweile hat die Gesundheitsförderung auch die Arbeitslosen entdeckt. Arbeitslosigkeit macht krank, und gesundheitlich eingeschränkte Erwerbslose haben noch geringere Chancen, auf den Arbeitsmarkt zurückzukehren als gesunde. Wie aber integriert man Betroffene, die aufgrund ihrer Erwerbslosigkeit über die üblichen Zugänge (Betrieb, Sportverein) gar nicht mehr erreichbar sind? Und wie motiviert man Menschen, die gestresst sind, in einem gestressten Umfeld leben, psychisch instabil sind oder Schulden haben?
AmigA (Arbeitsforderung mit gesundheitsbezogener Ausrichtung) im Bezirk Potsdam-Mittelmark ist ein bislang exotisches Modellprojekt, das darauf abzielt, gesundheitlich eingeschränkte Erwerbslose wieder einzugliedern bzw. diejenigen zu fördern, die krankheitsbedingt von Erwerbslosigkeit bedroht sind. Koordiniert wird das Projekt von den Fall-Managern in den Job-Centern, also dort, wo die Zielgruppe aufläuft. Das ist nicht unproblematisch, weil Prävention nur erfolgreich ist, wenn sie freiwillig erfolgt. Von einer staatlich initiierten Gesundheitsförderung könnten sich die Erwerbslosen aber auch genötigt sehen, ihre "Marktfähigkeit" unter Beweis zu stellen. Mehr Gesundheit, so der Tenor eines von medico veranstalteten Workshops, ist nämlich immer auch ein Mehr an sozialer Kontrolle. Erschwerend wirkt, dass derartige Projekte ihrerseits nachweisen müssen, dass sie wirksam und wirtschaftlich sind, was sich vorab an der erfolgreichen Jobvermittlung misst - und diese liegt außerhalb der Macht der Gesundheitsförderung. Das führt dazu, dass sich Maßnahmen automatisch an Erwerbslose mit geringeren Problemen richten. Die wirklichen Risikogruppen bleiben außen vor.
Eine durch ein Präventionsgesetz flankierte Gesundheitsvorsorge müsste also sicherstellen, dass die "schlechten Risiken" vordringlich versorgt werden, statt sie, wie heute bei den Krankenkassen, nach Möglichkeit abzuschieben. Ob Prävention geeignet ist, die Akzeptanz der Sozialversicherungssysteme zu erhöhen, wie Lauterbach vermutet, sei dahingestellt. Zwar stimmt es, dass sich die Rentenrendite für einen Geringverdiener (unter 30.000 Euro Jahreseinkommen), der überhaupt nur eine 60-prozentige Chance hat, das Rentenalter zu erreichen, nicht rechnet und er mit seinen Beiträgen die Rente der Gutverdiener mitfinanziert. Aufgrund seiner niedrigen Lebenserwartung wird er auch weniger Leistungen aus der Pflegekasse erwarten können. Aber einmal davon abgesehen, dass die Sozialversicherungssysteme auf eben dieser ungerechten Mischkalkulation basieren, hofft der einzelne Versicherungsnehmer immer, dass er ein "gutes Risiko" ist und, sollte er doch früh sterben, zumindest seine Familie halbwegs abgesichert weiß.
Dennoch, da wäre Lauterbach beizupflichten, ist Prävention eine Gemeinschaftsaufgabe, deren Last nicht nur den heute Versicherungspflichtigen auferlegt werden darf. Es gehört zu den Paradoxien des Systems, dass das Geld dort abgeschöpft werden soll, wo Krankheit entsteht: Wird, was wünschenswert wäre, weniger geraucht, würden nicht nur die Schwangeren auf das aus der Tabaksteuer finanzierte Mutterschaftsgeld verzichten müssen, sondern dann fehlten, wenn man Lauterbachs Rechnung folgt, künftig auch die Mittel für Prävention. Nicht nur der Qualm aus dem Auspuff hält das System in Trab - anders lässt sich Wirtschaften offenbar nicht denken.
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