Seit die Wetten auf den Fußballweltmeister auf dem grünen Rasen der Kasan-Arena überlaufen wurden, pokern die Deutschen um ihre Regierung. Wie lange noch hält die Koalition, heißt das Spiel. Der sogenannte Asylstreit war eine Hochzeit für Analysten, die das, was sich ihnen darbot, schon mal in aktuell gängige Metaphern kleideten: Für diese Truppe, orakelte Sven Gösmann von dpa, reiche es noch zum Achtelfinaleinzug. „Weltmeister wird sie zusammen aber auch nicht mehr: zu alt, zu satt, ausgebrannt, ohne Spielidee.“
Dass man in Großbritannien – auch wenn es sich auf dem Rasen besser präsentiert – in dieser Hinsicht der deutschen Regierung nicht nachsteht und es so scheint, dass Theresa May noch vor Angela Merkel die Kapitänsbinde abgeben muss, heißt noch lange nicht, dass sich Letztere weiter durchmogeln kann wie ein Jogi Löw. Schon steht wieder ihr Meister aus Bayern vor der Tür mit seinem „Masterplan“ und übt die nächste Drehung in einer Politposse, über die man hohnlachen könnte, wenn das Stück namens „Asylpaket“ für die betroffenen Menschen nicht so gravierende Folgen hätte.
Die Koalition blickt in den Abgrund, und was sie auf der Abbruchkante noch zusammenhält, ist die blanke Angst. Als die Jamaika-Verhandlungen platzten, hat sich die Kanzlerin noch geweigert, das Wagnis einer Minderheitsregierung einzugehen. De facto führt sie derzeit eine solche an, denn nach Umfragen ist die Koalition auf 47 Prozent abgestürzt, mit 17 Prozent liegt die AfD nun gleichauf mit der SPD. Wenn es so weitergeht, wird sich eine Mehrheit rechts von der Mitte formieren. Da waren die „Volksparteien“ doch aufgerufen, per Parteienfinanzierungsgesetz noch schnell ihre nächste Zukunft zu sichern. Der Regierung schallt nun von allen Seiten die Mahnung entgegen, ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Merkel verpflichtet sich vorauseilend zur „Sacharbeit“ – und diejenigen, die ihr wohlwollen, bescheinigen ihr, dass sich die ersten 100 Tage, wenn auch unterm Radar gelaufen, durchaus sehen lassen können. Die gesetzliche Krankenversicherung kehrt zur paritätischen Finanzierung zurück, der Kita-Ausbau wird vorangetrieben, Gesundheitsminister Spahn hat ein Sofortprogramm Pflege aufgelegt, sein Kollege Heil das Rückkehrrecht für Teilzeitbeschäftigte auf den Weg gebracht, und, ach ja, das Baukindergeld! An einigem lässt sich mäkeln, 13.000 zusätzliche Pflegekräfte sind viel zu wenig, das Rückkehrrecht ist quantitativ eingeschränkt, vom Baukindergeld profitieren nur Besserverdienende und es ist strukturpolitisch fragwürdig.
Gerechtigkeit hatte die SPD zum Auftakt des Wahlkampfs auf ihre Fahnen geschrieben und ohne Not inhaltsleer verpuffen lassen, „ohne Spielidee“. Die Rechtsalternativen haben das Thema auf ihre Weise gedreht und ein Match aufgelegt, in dem das Gerechtigkeitsthema gegen die ausgespielt wird, die ohnehin am schwächsten sind – und die Koalition spielt es mit und in gewisser Weise auch das Wahlvolk. Während aber die Flüchtlinge nur eine Chance erbitten, glaubt die einheimische Bevölkerung, sie käme bei der Verteilung der Ressourcen zu kurz. Es sind zwei Vorstellungen von Gerechtigkeit, die zwar verschiedene ideelle Ausgangspunkte haben, aber nicht völlig unvereinbar sind. Das lässt sich am Beispiel Pflege durchdeklinieren. In einer konzertierten Aktion starteten „die drei von der Pflegestelle“ (Tagesspiegel), Jens Spahn, Franziska Giffey und Hubertus Heil, kürzlich eine Kampagne gegen den Pflegekräftemangel. Eine Ausbildungsoffensive (Familienministerium), die Anwerbung von Mitarbeitern aus dem Ausland (Gesundheit) und ein bundesweit geltender Flächentarifvertrag (Arbeit) sollen Entlastung bringen. Man kann mit Recht einwenden, dass der Abzug von Fachkräften aus anderen europäischen Ländern nicht unbedingt fair ist und Patienten vor unzureichend Ausgebildeten geschützt werden müssen; andererseits würden von einem Flächentarifvertrag Altenpflege auch hiesige Beschäftigte profitieren.
Das doppelte Gerechtigkeitsthema stellt sich aber auch in anderen Bereichen. Die von der Union momentan verhinderte Reform der Mietpreisbremse – im Kalkül, dass diese 2020 ohnehin ausläuft – würde, konsequent eingebettet, nicht nur zu einer – wenn auch unzureichenden – Machtumverteilung zwischen Vermietern und Mietern führen, sondern auch die Zugangschancen der Wohnungssuchenden verbessern. Ähnliches gilt für die Entlastung der Geringverdiener von Sozialversicherungsbeiträgen, die der Arbeitsminister plant: Wäre sichergestellt, dass die Beschäftigten kein Rentendefizit fürchten müssen, wenn sie erst ab 1.300 Euro voll in die Sozialkassen einzahlen, erhöhte sich der Anreiz, eine Beschäftigung aufzunehmen, und vielleicht nähme es auch den Konkurrenzdruck zwischen einheimischen und ausländischen Arbeitskräften. Wer dafür bezahlt, Arbeitgeber, Solidargemeinschaft oder Steuerzahler, müsste allerdings hart ausgehandelt werden.
Es gäbe also eine Reihe sozialpolitischer Spielstätten, auf denen sich das von der AfD okkupierte Gerechtigkeitsthema aufnehmen und entschlossen gegen sie wenden ließe. Zumindest die Union spielt aber ein Game, als wäre sie schon mit ihr verbandelt. Wenn sie bei diesem Match mal nicht vom Rasen gefegt wird: zu alt, zu satt, ausgebrannt.
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