Rein in die Solidargesellschaft

Die Buchmacher Passend zu den Arbeitskämpfen des Kita-Personals ist ein Buch erschienen, das das Versagen unserer Gesellschaft beim Umgang mit der Sorgearbeit zeigt
Ausgabe 26/2015
Pflege, Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung. Wer muss sich kümmern?
Pflege, Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung. Wer muss sich kümmern?

Foto: Adam Berry/AFP/Getty Images

Lassen sich die vergangenen Streiks von Kita-Beschäftigten für die Aufwertung ihrer Berufe schon als Zeichen einer „Care Revolution“ deuten? Das wünscht sich die Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker in ihrem gleichnamigen Buch. Sorgearbeit, entlohnt oder unentgeltlich, wird jedenfalls ein immer größeres Problem in einer Gesellschaft, die von Frauen erwartet, sich als Erwerbstätige für den Arbeitsmarkt zu optimieren, und die es nicht schafft, Kinderbetreuung, Gesundheitsversorgung und Pflege bedarfsdeckend zu organisieren.

Winker geht von einer explizit marxistischen Analyse aus. Sie grenzt Reproduktionsarbeit ab von Care: Unter ersterer sind alle Tätigkeiten jenseits der Lohnarbeit zu fassen, die notwendig sind, um die menschliche Arbeitskraft zu erhalten, auch die Selbstsorge. Care dagegen meint alle bezahlte wie unbezahlte Arbeit, die es benötigt, um eine Person intellektuell, körperlich und emotional zu entwickeln und zu erhalten. Die Beziehungen zwischen den diese Verantwortung Tragenden und den auf diese Leistungen Angewiesenen sind jedoch asymmetrisch. Care fokussiert also eher die menschlichen Beziehungen und weniger den ökonomischen Stellenwert der Sorgearbeit.

Die im Fordismus dominierende Hausfrauenehe ermöglichte es, Kinder aufzuziehen und Alte zu pflegen. Doch die dazu erforderlichen Sozialversicherungssysteme erwiesen sich als relativ teuer und der Arbeitsmarkt benötigt immer mehr qualifizierte Frauen, die sich nun mit dem sogenannten Vereinbarkeitsproblem konfrontiert sehen: Sie sollen als fitte „Arbeitskraftunternehmerinnen“ bereitstehen, aber gleichzeitig ihre Familien managen, bei erhöhten Anforderungen an Erziehung und Ausbildung von Kindern. Zum Teil werden diese Tätigkeiten ausgelagert an meist schlecht bezahlte Erzieherinnen und Pflegerinnen. Doch die Ökonomisierung häuslicher Dienstleistungen hat Grenzen: Zum einen sind sie viel weniger rationalisierbar, zum anderen immer noch zu teuer, um eingekauft zu werden. So sind es nach wie vor Frauen, die mit Zeitnot und Überlastung konfrontiert sind, als erwerbstätige Mütter und unterbezahlte Care-Arbeiterinnen.

Spannend ist, wie Winker die Krise der Sorgearbeit als Folge der kapitalistischen Überakkumulationskrise interpretiert und Finanzmarktkrise, Staatsverschuldung und Lohnentwicklung in Korrespondenz bringt mit dem Kostensenkungsdruck für Sozialausgaben und den zugleich steigenden Kosten für die Reproduktion der Arbeitskraft. Winker geht hart ins Gericht mit linken Analysen, die sich nur mit „Banken, denen es schlecht geht, oder mit Märkten, die nervös reagieren“ auseinandersetzen. „Auf diesem Weg bleibt die Krise sozialer Reproduktion unsichtbar und die Menschen mit ihren Existenzsorgen und ihrem Zeitstress verschwinden.“

Aufgrund der von ihr skizzierten Zusammenhänge wäre es allerdings ein Irrweg, zu glauben, man könne die entlohnte Sorgearbeit einfach ausweiten und delegieren. Winker sieht in der Krise der Care-Arbeit vielmehr die Chance für eine Transformationsstrategie. Es gelte die Spaltung von Leistungsträgern und -empfängern zu überwinden und den Gebrauchswert dieser Tätigkeiten in den Mittelpunkt zu stellen.

Winkers Lösungsansätze – Vernetzung, Zeitsouveränität, Existenzsicherung, Ausbau der sozialen Infrastruktur und Installation sogenannter Care-Räte – sind nicht alle neu. Sie sollen auch nur den Weg ebnen in eine solidarische Gesellschaft. „Revolutionäre Realpolitik“ nennt sie das mit Rosa Luxemburg.

Info

Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft Gabriele Winker transcript Verlag 2015, 208 S., 11,99 €

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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